Ein Beitrag von Ekkehard Ochs
Der 31. Jahrgang des Usedomer Musikfestivals ist zu Ende gegangen. Am vergangenen Sonnabend setzte die NDR-Bigband mit diversen Gästen in der Lokhalle des Seebades Ahlbeck den fulminanten Schlusspunkt unter eine dreiwöchige Veranstaltungsserie, die mit dem Länderthema „Polen“ – meistens natürlich Konzerte – wieder zahlreiche Musikfreunde auf die Insel gelockt hatte. Stolz spricht der Veranstalter von insgesamt rund 14.500 Besuchern und einem programmatisch wieder sehr gelungenen, nicht nur im engeren musikkulturellen Sinne aufzufassenden und thematisch nun schon dritten „Brückenschlag“ zum Nachbarland Polen. Er spricht aber auch von einem weiteren, ja besonderen Höhepunkt im Veranstaltungsjahr 2024, das ja außerdem mit den inzwischen hochkarätigen jährlichen Usedomer Literaturtagen (April, mit Nobelpreisträger Jon Fosse), dem European Arts Festival Summit (im Mai mit 47 beteiligten Nationen und in Anwesenheit von Lech Walesa) und den noch kommenden Internationalen Tagen der Jüdischen Musik (November) noch viel zu bieten hatte – und noch hat!
A propos! In diesem Zusammenhang noch ein letzter Blick auf einige Veranstaltungen, mit denen das Usedomer Muikfestival auch diesmal so erfolgreich punkten konnte.
Als bereits etwas zurückliegender Nachtrag sei zunächst eine d e r Kultveranstaltungen erwähnt, ohne die man auf der Insel nicht auskommt: der Ostsee-Musikforum genannte Meisterkurs des Cellisten David Geringas im Schloss Stolpe. Er erwies sich mit einem Eröffnungskonzert (David Geringas, Ian Fountain, Klavier), vor allem aber mit dem Finale, in dem sich die durchweg jugendlichen, teils gar sehr jugendlichen Kurs-Teilnehmer*innen vorstellten, auch in diesem Jahr als Besuchermagnet. Wie auch nicht! Ist es doch überaus spannend, jungen Interpreten zu einem frühen Zeitpunkt ihrer künstlerischen Entwicklung zu begegnen und dabei oft genug Zeuge noch unverstellt frischer Gestaltungsabsichten zu werden. In Stolpe musizierten fünf teils schon über beachtliche Künstler-Biographien verfügende Kursant*innen – wie in jedem Jahr souverän von Tamami Toda-Schwarz am Klavier begleitet. In Erinnerung blieb da manches: Bach und Dvarionas mit der 14jährigen Maria Sokolova (Litauen), Brahms´sche Liedarrangements mit Jan Tim Schmidt oder ein bemerkenswert authentisch präsentierter Prokofjew (Sonate op. 119, 1. Satz) mit dem 18jährigen Emanuel Schmidt.

Einen ganz starken, weil ungemein durchdachten und differenzierten Brahms (e-Moll-Sonate, 1. Satz) lieferte der sichtlich schon über viel Erfahrungen verfügende Guanxing Wang (China), „assistiert“ von der erst 14jährigen Armenierin Mari Hakobyan, die mit geradezu umwerfend musizierten Tschaikowski´schen Rokoko-Variationen die Stimmung im Saal ein weiteres Mal gewaltig aufmischte. Dann wurde es nochmal so richtig „schön“, als sich nämlich Geringas selbst und drei weitere Cellisten zu einem klangsatten „Feierlichen Stück“ vereinten: Aus Wagners „Lohengrin“, vor langer Zeit wirkungsvoll arrangiert von Friedrich Grützmacher.
Ein nicht alltägliches Angebot gab es dann in einem moderierten (Klaus Harer) Kammermusikabend, der unter dem Thema „Schlesische Romantik“ nicht nur für die Ohren reichlich Stoff lieferte. In der Evangelischen Kirche zu Benz – vom berühmten Feininger mehrfach auf Papier gebannt – musizierte das „Quartett sine nomine“ aus Polen Streichquartette von Józef Elsner (1769-1854) und Stanisław Moniuszko (1819-1872) sowie ein Streichquintett von Franz Gebel (1787-1843). Weitestgehend unbekanntes Terrain also. Aber eines, wo genaues Hinhören lohnte! Nicht nur, weil das polnische Quartett-Ensemble aus vier Spezialisten für historisch informierte Aufführungspraxis besteht, sondern weil sich auch die im Programm vertretenen Komponisten als in Wien (Gebel, Elsner) und Berlin (Moniuszko) geprägte Persönlichkeiten und damit als Träger vorwiegend klassischer Traditionen erwiesen. Da war es schon spannend, ihnen auf den von Haydn und Beethoven überreich bestellten Feldern von Streichquartett und -quintett zu begegnen; übrigens jenseits jeder Stilkopie und – bereits seinerzeit hervorgehoben – polnische Elemente berücksichtigend. Hier sei nur sehr pauschal darauf verwiesen, dass Elsners F-Dur-Quartett op. 1/1 – eines von drei Werken „im feinsten polnischen Stil“ (Titel!) – Moniuszkos d-Moll-Quartett op. 1 sowie Gebels 8. Quintett für zwei Violinen , Viola und zwei Violoncelli (!) B-Dur,mit durchaus einfallsreicher Erfindung, gekonnter Verarbeitungstechnik und stringentem Musiziergestus nicht nur zu gefallen, sondern zu beeindrucken wussten. Da besaß jedes Stück seine eigene Sprache und jede Menge hervorhebenswerter Qualitätmerkmale. Im Falle Gebels etwa die augesprochen solistische Ausprägung des 1. Violoncellos, für das Martin Seemann als zusätzlicher Interpret gewonnen werden konnte. Insgesamt war dieser Konzertabend in mehrfacher, hier leider nicht im Detail zu beschreibender Hinsicht ein Gewinn. Auch wenn eine gewisse Einschränkung insofern bleibt, als es dem Ensemble an diesem Abend nicht immer gelang, seinem ansonsten tadellosen Spiel ausreichend fesselnde Klangintensität und musikantische Stringenz zu vermitteln..

Aller guten Dinge sind drei! Berichten wir also noch von einem Orgelkonzert, zu dem als „Orgel-Gala“ in die Evangelische Kirche Seebad Ahlbeck eingeladen worden war. Der Solist: Roman Perucki, Orgelprofessor an der Musikakademie Danzig, Hauptorganist an der Kathedrale zu Oliva und, und, und…! Sein Programm auf Ahlbecks Grünberg-Orgel (Stettin): rein polnisch zwischen Danziger Orgeltabulatur (ca. 1591) und Musik der Mitte bis zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Auch hier stieß der Musikfreund auf durchweg unbekannte Namen. Was angesichts der Qualität des Gehörten – wie schon bei oben erwähntem Kammermusikabend – bestens geeignet war, schnell sehr neugierig zu machen – und es zu bleiben. Das betraf vor allem eine Werkauswahl, die sich stilistisch recht abwechslungsreich präsentierte: beginnend mit einer Fantasie, einer vokalen Adaption und einer Choralbearbeitung aus genannter Tabulatur, über eine weitere Choral-Partita des Danzigers Daniel Magnus Gronau, zwei Polonaisen (!) des im Zusammenhang mit Bach bekannten Johann Gottlieb Goldberg bis hin zu zwei ausgewachsenen Orgelsonaten Miesczysław Surzyńskis (1866-1924) und Feliks Borowskis (1872-1956). Mit Zbigniew Kruczeks (*1952) Präludium und Fuge „Marsch“ (aus 24 Präludien und Fugen) beendete der Solist höchst originell-beschwingt, ja fast ironisch ein Programm, das dem Anliegen des Musikfestivals, Kenntnisse, Einsichten und Genuss über den thematischen „Gegenstand“ zu vermitteln, ebenfalls bestens entsprach und sich damit punktgenau in das Gesamtprogramm einfügte. Leider muss hier – wie schon bei den Streichquartetten und dem Quintett – der Versuchung widerstanden werden – auf viele lohnende Details einzugehen, zumal vor allem die drei letztgenannten Stücke eine genauere Betrachtung und Würdigung verdienten. Es bleibe also bei der Feststellung eines bis zum letzten Ton fesselnden Programms – und einer rechtens mit viel Beifall bedachten Leistung des Gastes an der Orgel. Schade nur, dass Begegnungen dieser Art, wie sie das Usedomer Musikfestival mit seinen wechselnden Länder-Themen (dreimal Polen!) seit nunmehr 31 Jahren präsentiert, auf eben jene drei Wochen beschränkt bleiben. Aber sie können kolossal anregen und jede Menge individueller „Nachhaltigkeits-Maßnahmen“ auslösen.
Titelfoto © Geert Maciejewski