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Einfach Klassik.

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„Mich reizt das Bild vom Interpreten als kreativem Künstler“ – Interview mit Gabiz Reichert

Gabiz Reichert musiziert auf seiner Debut-CD befreit und hochpräzise zugleich. Er hat sich dafür Werke ausgesucht, die forschend Grenzen überwanden und damit oft Erwartungen enttäuschten. Im Gespräch bricht er – durchaus etwas provokativ – eine Lanze für die Freiheit des Interpreten, die er aktuell in einem neuen Studiengang wissenschaftlich untermauern will. Angeregt fühlt sich der junge Schweizer Pianist unter anderem durch das Buch “beyond the score” von Nicholas Cook. Dieser sieht eine allzu starke musikwissenschaftliche Fixierung auf die Texttreue. Denn letztlich wird ein Werk doch erst durch die individuelle Performance zu dem, was es sein soll – zu Musik.

Das Interview führte Stefan Pieper

Sie sind gerade wieder nach Basel gezogen. Womit beschäftigen Sie sich aktuell?

Ich versuche mir in Basel die reichhaltige Schweizerische Kulturszene anzueignen. Die kenne ich nicht mehr so gut wie früher. Ich war ja zehn Jahre weg. Basel hat super attraktive kulturelle Angebote. Vor allem gibt es einen neuen Studiengang, wo ich mich auf ein Doktorat im künstlerischen Bereich vorbereiten kann.

Muss ich mir das so vorstellen, dass Sie dort einen Doktor als performing artist erwerben können?

Genau, es ist als Hybrid gedacht zwischen Wissenschaft und Praxis. Ich bereite mich gerade mit Freude darauf vor. Vorher muss ich noch beweisen, dass ich akademisch arbeiten kann. Dafür sind noch einige Arbeiten zu schreiben, ich bin ja bislang „nur“ Pianist und kein Musikwissenschaftler.

Gibt es da bestimmte Schwerpunkte?

Ein großes Thema ist eine vergleichende Interpretations-Wissenschaft. Wenn Sie sich dafür näher interessieren, empfehle ich das Buch von Nicholas Cook mit dem Titel „beyond the score“. Darin kritisiert der Autor, dass die meisten heutigen Interpreten eine viel zu große Versessenheit auf den reinen Notentext haben und dadurch viele persönliche Facetten zu kurz kommen. So empfinde ich es persönlich ja auch, aber dieses Thema ist ein echtes Minenfeld. Vor allem in Prüfungen und Wettbewerben ist eine rigide Text-Treue ja schon Überlebensprinzip, da man sich mit allem anderen angreifbar macht. Meine Hoffnung ist, dass sich hier alternative Ansätze durchsetzen und diese auch eine musikwissenschaftliche Fundierung erfahren.

Schon früher haben sich ja schon große Interpreten vom Diktat der strengen Texttreue emanzipiert.

Eben – man denke nur an Glenn Gould, dessen hoher künstlerischer Wert heute unumstritten ist. Mich reizt einfach das Bild vom Interpreten als kreativem Künstler und nicht in erster Linie als Reproduzenten. Wir haben seit über hundert Jahren einen riesigen Katalog von Aufnahmen und das immer neue Reproduzieren ist nach wie vor extrem beliebt. Ich möchte so etwas gar nicht seinen Wert absprechen. Natürlich ist es eine große Leistung, eine Referenzaufnahme möglichst gut zu kopieren und eine Beethoven-Sonate so zu spielen wie sie dort steht. Aber ich möchte als schaffender Interpret doch noch einen Schritt weiter gehen und bei zeitlosen Werken herausarbeiten, warum diese Werke zeitlos sind.

Hat es mit Aufrichtigkeit zu tun, auch mal einen falschen Ton zu spielen und dazu zu stehen? Oder sogar bewusst etwas dazu zu erfinden, wo es sinnvoll erscheint?

Ja, natürlich. Zum Glück hatte ich Lehrer, die mich gut unterstützt haben in solchen Bestrebungen.
Ich habe in Basel bei Filippo Gamba und in München bei Antti Siirala studiert. Ich erinnere mich, wie ich mal in César Francks Stück Choral und Fuge noch ein tiefes h dazu gespielt habe. Weil ich es für sinnvoll hielt, um der Sache untenrum noch eine gewisse Festigkeit zu geben. Und obwohl Filippo Gamba von dieser Idee überzeugt war, warnte er mich davor, dies in Prüfungen oder im Wettbewerb zu machen. Dass man sich mit neuen Ideen überall sofort angreifbar macht, zeigt meines Erachtens die Idiotie in diesem ganzen Ausbildungssystem. Klar – beim Hören einer Beethoven-Sonate hört, die man gut kennt, fällt sofort auf, wenn da jemand in einem Akkord eine Quinte hinzufügt. Aber wenn das an dieser Stelle plausibel funktioniert, dient es ja umso mehr dem Werk und seiner Aussage in der Gegenwart. Ich würde hierbei sogar von einer besonderen Werktreue reden. Werktreue und Texttreue müssen also nicht dasselbe sein.

Sie sehen den Notentext also nicht als absolute Wahrheit, sondern als eine Art Abschrift jener Ur-Wahrheit, die in der Idee der Komposition steckt?

Genau – und da kommt die Platonsche Idee vom Ur-Bild und den Abbildern ins Spiel. Üblicherweise haben Sie ein Bild im Kopf hat von einer Beethoven-Sonate, weil sie ja in gewisser Weise schon bekannt ist. Sobald man diese Sonate nun wieder hört, vergleicht man sie sofort mit diesem inneren Bild und findet alles, was davon abweicht, erst ein Mal nicht gut, anstatt hinzuhören, was für ein neues Bild sich einem präsentiert.
Wir Musiker sind in dieser Hinsicht noch recht unfrei, im Gegensatz etwa zum Theater. Gucken Sie sich heute etwa eine zeitgenössische Aufführung eines Schiller-Theaterstückes an – hier kann man, ja sollte man sogar etwas anderes als eine klassische Aufführung erwarten. Und natürlich wird in den Text eingegriffen, wenn etwa Passagen gestrichen werden. Oder es wird etwas hinzugefügt, um der Sache einen kreativen Eigenwert zu geben. Ich plädiere gar nicht dafür, es in der Musik genauso weit zu treiben, aber vielleicht könnte man sich etwas davon abgucken und dafür eintreten, dass man es auch darf. Man hört häufig Stimmen, die sagen, wenn Beethoven das so gewollt hätte, hätte er es geschrieben. Aber damit reißt man die Autorität eines toten Komponisten an sich. Dabei ist es doch noch spannender, zu zeigen, wie die Kompositionen heute funktionieren, vielleicht auf anderen Instrumenten.

Müssten Sie dann nicht ehrlicherweise angeben, dass wo Sie nachbearbeitet oder neu arrangiert haben?

Ja, das ist eine gute Frage. Aber eigentlich spielt doch jeder Interpret sein eigenes Arrangement.
Denn es ist doch utopisch, anzunehmen, dass sich die eigenen Wertvorstellungen mit denen eines Werkes oder eines anderen Menschen, der vielleicht vor 200 Jahren lebte, komplett decken.

Werden solche Fragen auch im neuen Studiengang diskutiert?

Es ist noch ein sehr neues Terrain und hält erst zögerlich in den akademischen Diskurs Einzug. Andererseits ist über so etwas doch schon immer nachgedacht worden.

Zahlt sich hier diese neue Personalunion zwischen Interpret und Musikologe aus?

Auf jeden Fall. Die Theorie hilft nicht weiter, da sich neue Interpretationsätze in erster Linie aus dem Spiel heraus entwickeln können. Man muss sich immer bewusst machen, dass es ein Spiel ist.

Eben so – wie viele Komponisten ihre Meisterwerke ja auch aus der Improvisation heraus entwickelt haben.

Viele Komponisten der Hochromantik haben eigene Editionen von älteren Kollegen heraus gegeben und dabei viele eigene Dinge eingebaut. Oder gucken wir auf die Neue Musik, in der die Hierarchie zwischen Komponist und Interpret flexibel definiert wird – allein, wenn der Komponist einem ganz bestimmten Interpreten zuarbeitet. Und wenn man schon dabei ist, alte Komponisten wiederzubeleben, dann kann man ruhig damit auch mal etwas offensiver in einen Diskurs treten. Eben so, dass man bestimmte Unterschiede herausarbeitet und damit die Musik weiterentwickelt und letztlich am Leben erhält.

Klaviatur
Gabiz Reichert in Aktion

Was fühlt sich besonders befreiend an?

Man löst sich von vielem, was in der Ausbildung und in Wettbewerben stattfindet. Früher wurde ich schon nervös, wenn ich in einer Haydn-Sonate einen Thriller nicht von oben gemacht habe zum Beispiel. Vieles von meiner heutigen Einstellung verdanke ich Filippo Gamba, Stefan Rohringer und Antti Siirala.

Sie haben mir jetzt eine gute Vorstellung vermittelt, warum Sie Ihr Debut-Album „A New Path“ nennen. Warum haben Sie gerade dieses Repertoire für Ihren neuen Weg ausgewählt?

Die Haydn-Sonate habe ich zum ersten Mal auf einem Wettbewerb gespielt. Da erlebte ich wieder diese große Frustration. Was kann man sich erlauben und was nicht? Egal, wem man etwas vorspielt, ständig heißt es, das geht doch so bei einem Wettbewerb nicht, weil man sich sofort angreifbar macht. Die aktuelle Aufnahme, die mit dieser Haydn-Sonate beginnt, markiert einen Versuch, mich davon etwas zu lösen. Ich habe mich hier einfach der Frage hingegeben: Wie kann ich es machen, dass ich mich damit möglichst wohl fühle? Mehr noch: Was muss ich ignorieren, damit ich mich wirklich wohl fühle?

Wie war es bei der Beethoven-Sonate?

Ich hatte einen Freund diese Beethoven-Sonate spielen gehört. Sie gefiel mir so gut, dass ich spontan wieder Lust hatte, diese Sonate zu lernen. Und natürlich bin ich beeindruckt von der Experimentierfreudigkeit Beethovens. Bei dem vierten Satz der Sonate habe ich immer wieder an Haydn gedacht und schnell gemerkt, dass das gut zusammen passt.

Haydn und Beethoven vereinen sich auf der Aufnahme zu einem sehr organischen Spannungsbogen, allein der abwechslungsreichen und unkonventionellen Satzfolge wegen. Wie kam Prokoffief ins Spiel?

Haydn und Beethoven haben viele Aspekte von Experiment, aber natürlich ist es schwer, sie heute als experimentelle Musik wahrzunehmen. Deswegen brauchte es für diese Aufnahme noch etwas, was sich noch heute wie ein Experiment anfühlt.
Und da bin ich auf Prokofiev 5. Klaviersonate gekommen die ich schon mal zu Anfang meines Studiums gelernt habe.

Was hat es mit dieser selten gespielten Sonate auf sich?

Die Sonate wurde von der Kritik stark unterschätzt, manchmal sogar als sein schlechtestes Werk verrissen. Aber das liegt vor allem daran, dass diese Musik ganz besondere Stimmungen erschafft, die normalerweise nicht typisch für diese Musik sind. Prokofiev muss diese Sonate sehr intensiv und lange beschäftigt haben. Nur so ist erklärbar, dass er die Sonate noch 30 Jahre später revidieren wollte. Ich habe diese zweite, späte Version ausgewählt, da sie in meiner Wahrnehmung stimmiger ist. Diese Sonate muss für ihn ein großes in tiefes Anliegen gewesen sein. Seine Frau schreibt in einem Tagebuch, dass sie ihn als sehr glücklich erlebt hat nach der abgeschlossenen Revidierung. Prokofiev meinte selber, dass der Schaffensprozess wie ein Fieber gewesen sein muss und ich sehe da auch gewisse deliriöse Zustände. Er war übrigens auch schriftstellerisch aktiv und hat zum Beispiel Märchen geschrieben. Die sind atmosphärisch auf derselben Linie wie diese Musik. Mich beeindruckt, wie gekonnt Prokofiev so etwas musikalisch umsetzen kann. Und das haben viele Menschen zu dieser Zeit wohl missverstanden.

Ist die übliche Wahrnehmung dieser Musik heute eine andere?

Nicht wirklich. Ich habe die Sonate mal bei einer Aufnahmeprüfung gespielt und da kam sofort das negative Feedback, dass dies nichts mit Prokofiev und auch nicht viel mit Klavierspielen zu tun habe.

Hätten Sie mit diesem Programm eine Chance bei einem Major-Label gehabt?

Definitiv nicht – aber das war mir vorher bewusst. Im Nachhinein weiß ich gar nicht mehr, was mir den Mut für die Auswahl dieses Programms gegeben hat. Aber ich wollte mich einfach so wie ich bin präsentieren. Ich möchte zeigen, womit ich mich gerade identifiziere und wie es gerade in meinem Innenleben und meiner eigenen Schaffensphase aussieht.

Vielen Dank für dieses Interview!

Icon Autor lg
Musik und Schreiben sind immer schon ein Teil von mir gewesen. Cellospiel und eine gewisse Erfahrung in Jugendorchestern prägten – unter vielem anderen – meine Sozialisation. Auf die Dauer hat sich das Musik-Erleben quer durch alle Genres verselbständigt. Neugier treibt mich an – und der weite Horizont ist mir viel lieber als die engmaschige Spezialisierung, deswegen bin ich dem freien Journalismus verfallen. Mein Interessenspektrum: Interessante Menschen und ihre Geschichten „hinter“ der Musik. Kulturschaffende, die sich etwas trauen. Künstlerische Projekte, die über Tellerränder blicken. Labels, die sich für Repertoire-Neuentdeckungen stark machen. Mein Arbeitsideal: Dies alles fürs Publikum entdeckbar zu machen.
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