Eines der bewegendsten Konzert-Erlebnisse, die ich vor vielen Jahren hatte, war ein Soloauftritt mit der Geigerin Isabelle Faust, als diese Bachs gesamten Zyklus aus Partiten und Sonaten fast drei Stunden lang im voll besetzten Konzerthaus Dortmund spielte. Bewegend vor allem deshalb, weil sich hier ein Mensch ohne jede eitle Geste an der Musik, ebenso an dem großen Raum und diesem Publikum redlich abarbeitete – und damit sämtlichen hier möglichen Reichtum an Strukturen und Empfindung freisetzte. In dieser Hinsicht war die Neugier groß, die herausragende Geigerin nun mit einem weiteren Solo-Auftritt beim NOW! Festival für Neue Musik in Essen zu erleben. In der Sankt Ludgerus-Basilika ging es um das Bespielen eines Raumes – aber diesmal unter ganz anderen Voraussetzungen.
Auch das Nicht-Gespielte „sagt“ viel beim NOW! Festival
In Luigi Nonos elektro-akustischem Werk „La lontananza nostalgica utopica futura“ geht es darum, sich selbst mit diesem Instrument einem komplexen Spannungsfeld auszusetzen, aber auch hier letztlich das gestaltende Zentrum zu behaupten. Isabelle Faust durchschreitet allein mit ihrem Instrument den Raum wie eine Suchende – und das mit einer unnahbaren Präsenz. Sie verweilt an den Notenpulten, setzt zum Spiel an, welches die elektronischen Zuspielungen in seiner Körperhaftigkeit auf Anhieb überhöht. Oft in Grenzbereichen der Lautstärke und der Tonhöhe. Den Druck auf die Saiten minimierend, mit Flagolettes, die vielen Obertonfrequenzen umso mehr Gewicht verleihen. Aber es gibt auch clusterhafte, forsche Ausbrüche, welche diese dunkle, außerweltliche Feierlichkeit durchschneiden. Nonos Komposition, eine seiner letzten im übrigen, kombiniert Klangfragmente, um damit verästelte Strukturen wachsen zu lassen und diese räumlich anzuordnen. Beteiligt an diesem Abend beim NOW! Festival war auch der italienische Klangkünstler Alvise Vidolin, der zuvor schon Isabelle Fausts gespielte Fragmente aufgenommen hatte – die nun, meist leise und verhallt, aus allen Richtungen kommen. Was den Raum, an dessen Ende das ewige Licht gedämpft flackert, noch endloser erscheinen lässt. Die Rhetorik, mit der Isabele Fausts Live-Spiel darauf „antwortet“ ist atmend und assoziativ. Vor allem das Nicht-Gespielte, diese ausgedehnten Momente der Stille, „sagen“ viel.
Tief in sich ruhende Achtsamkeit
Verglichen mit den wenigen vorhandenen Einspielungen dieser Musik, geht Isabelle Faust an diesem Abend noch zurück genommener zu Werke. Von höchster, in sich ruhender Achtsamkeit zeugt, wie sie sich mit ihrem Spiel in dieses rituelle anmutende Setting hinein vertieft. Der Raum mit all seinen akustischen Ereignissen und auch Störungen muss für die Interpretin ein nicht immer einfacher „Konfrontationsgegner“ sein. Man denkt manchmal fast an John Cages Stück 4:33, wo ja auch alles zufällige Klang-Geschehen zum Material wird. Vereinzelte, unvermeidliche Huster im Publikum. Später eine Handvoll Menschen, die vor der Herausforderung zum Teilnehmen kapitulieren und die Kirche beim NOW! Festival – unter immensen Störgeräuschen – vorzeitig verlassen. Aber alle anderen waren bereit, sich auf dieses Ausnahmeerlebnis einzulassen und werden sich daran wohl viel länger erinnern, als an zahllose andere Konzerte mit üblich dosierten „Wohlfühlfaktoren“.