Ein Gastbeitrag von Ekkehard Ochs
Orchesterkonzerte – unabhängig davon, ob in großer oder kleinerer Besetzung präsentiert – gehören nicht nur seit langem zum Veranstaltungs-Kanon der Greifswalder Bachwoche, sie zählen auch zu den besonderen Besuchermagneten. Schon seit tiefen DDR-Zeiten rangierte etwa die „Große Kammermusik“ an entsprechend vorderster Front, was nicht zuletzt den Protagonisten geschuldet war, die das Ganze schon zum Kult werden ließen: dem Kammerorchester der Komischen Oper Berlin; früher mit seinem langjährigen „Chef“, dem Konzertmeister Ulf Däunert. Das Besondere bestand auch darin, dass seinerzeit im schwierigen Beziehungsgefüge zwischen Kirche und Staat auf schmalem Grat gewandert werden musste und damit Konzerte dieser Art und an diesem Ort (!) auch demonstrativen Charakter trugen. Solcherlei Hindernisse gibt es seit 1989 nicht mehr, das Konzertformat und das traditionsreiche Orchester aber schon; der „Chef“ seit Jahren: Konzertmeister Gabriel Adorján.
In St. Jacobi zu Greifswald ging es in diesem Jahr – themengemäß – um Bach und die Romantik. Wollte hier heißen: um Bach, Mendelssohn und Dvořák. Und um Werke in reiner Streicherbesetzung. Das engte lediglich die Auswahl ein, denn mit den ersten fünf Contrapuncti aus Die Kunst der Fuge, dem Mendelssohnschen e-Moll-Violinkonzert op. 64 in Streicherfassung (Jacob Kowalewski) und Dvořáks äußerst publikumswirksamer Streicherserenade in E-Dur op. 22 war schon ein besonders attraktives Programm gewährleistet. Zumal mit einem Ensemble von so professionellem Zuschnitt, wie es die Berliner Gäste verkörpern. Der auch für diese Kirche hinlänglich bekannte Wermutstropfen: eine Akustik, die der genussvollen Wahrnehmung musikalischen Gestaltungswillens doch nicht selten überhallig im Wege steht. Ein gewisser Gewöhnungseffekt führt dann aber doch immer wieder zu begeisterten Reaktionen eines Publikums, das, neben dem Dom St. Nikolai und der akustisch noch schwierigeren Kirche St. Marien, auchSt. Jakobi als einen der unabdingbar dazugehörigen Aufführungsorte der Bachwoche akzeptiert.

Zunächst also schönste Bachsche Fugenkunst – akustisch noch einigermaßen transparent vernehmbar. Dann einen recht kraftvollen, rasanten, fast stürmischen und eher als klangvoluminös erfahrbaren und im Hinblich auf eine ungewohnte Besetzung neu einzuordnenden Mendelssohn, der dem Solisten Adorján wieder das beste Zeugnis eines spieltechnisch wie musikantisch überzeugenden Virtuosen ausstellte. Zum Schluss ein Dvořák, der mit dem Bonus griffiger, prägnanter Satzstrukturen akustisch punkten konnte und damit dem Abend in der vollbesetzten Jacobikirche ein so herzhaft musikantisches wie tänzerisch beschwingtes Finale bescherte.
Vokalsinfonisch ging es einen Tag später zu. Diesmal im Dom St.Nikolai, mit großbesetztem Sinfonieorchester, Chor und Solisten. Auf dem Programm: Nils W. Gade und seine 1. Sinfonie c-Moll op. 5 (1842) sowie – als Uraufführung – Immanuel Otts „Horch´e tempo di dormire“ für großes Orchester, Chor und Solosopran.
Gade, einem breiteren Publikum eher weniger bekannt, gilt als d e r dänische Nationalromantiker, als wichtiger Wiederentdecker eigener nationaler Wurzeln und ihrer Verbindung mit der klassischen mitteleuropäischen Musikentwicklung. Kein Zufall, dass er – wie viele andere skandinavische Tonsetzer – nach Leipzig ging. Dort konnte er sich weiter aus-und fortbilden (Mendelssohn!), arbeitete sogar fünf Jahre und neben Mendelssohn als Musikdirektor des Gewandhausorchesters und konnte – dirigiert von Mendelssohn – dort auch seine 1. Sinfonie uraufführen (12. März 1843). Dies mit Riesenerfolg und “zur lebhaften, ungetheilten Freude des ganzen Publicums, das nach jedem der vier Sätze in den lautesten Applaus ausbrach.“ Und: “…erfüllen Sie unsre Wünsche und Hoffnungen, indem Sie viele, viele Werke in derselben Art, von derselben Schönheit schreiben…“ (Mendelssohn). Und Schumann verweist 1843 auf überall deutliche „nationelle“ Bestrebungen und bezüglich Gades auf einen ausgeprägten „nordischen“ Charakter, von dem „Gediegenstes“ und „Schönstes“ zu erwarten sei. Was denn in Greifswalds (alles akustisch überhöhendem, übertreibendem) Dom mit entsprechender Klangwucht demonstriert werden konnte. LKMD Frank Dittmer am Pult ließ es an entsprechender Deutlichkeit nicht fehlen. Was nichts weniger bedeutete, als eine ziemlich große Spanne zwischen lyrischer Liedhaftigkeit (z. B. mit Gades Lied „Auf Seelands lieblichen Ebenen“), flott Scherzosem und monumantaler pathetisch-hymnischer Gestik so sinnfällig wie kontrastgeschärft zu verbinden. Kein Problem für das Bachwochenorchester, dem das auch unter (unverschuldetem) Verlust manchen musikalisch wichtigen Details (Akustik!) glaubhaft gelang. Schumann sprach vom „ausgezeichneten Talent“ Gades. Als solche „Talentprobe“ darf man die Kenntnisnahme dieses Werkes als unbedingten Gewinn verbuchen!

Einen besonderen Akzent setzten die Ausführenden des Abends mit der Uraufführung Immanuel Otts. Ott, ehemals Musiktheorie-Student an der HMT Rostock, danach Dozent an verschiedenen Orten und nunmehr Universitäts-Professor für Musiktheorie an der Musikhochschule Mainz, hat in seinem Werk den Text eines italienischen Mariengesangs aus dem 17. Jahrhundert vertont. Es sind Verse von großer Gefühlshaftigkeit , die poesievoll gefasste Klage einer Mutter, die um das künftige tragische Schicksal ihres Sohnes Jesus weiß, mehrfach unterbrochen von Deuteengeln (Angeli interpretes), die das dennoch Tröstliche und spätere Sieghafte des nur momentan individuell tragischen Geschehens mit großer Gewissheit verkünden.
Der Komponist findet für diese textliche Vorlage eine Musik, die mit klanglichem „Materialeinsatz“ nicht spart. Er scheut weder Opulenz noch Ausdrucksmuster, die seine genaue Kenntnis traditioneller Stile verraten. Gleichzeitig „redet“ er in einer musikalischen Sprache, die sich erkennbar an der Tonalität orientiert. Geichzeitig weitet oder überschreitet er ihre Grenzen schon mal bis hin zur Klangflächigkeit, um dann mit ganz eigengeprägter „Sprache“ ein sichtlich angestrebtes hohes Maß an emotionaler Ausdrucksdichte und -intensität zu erreichen. Dies sowohl im orchestralen Bereich wie in der Behandlung des Chores und der Solostimme; hinsichtlich der beiden Letztgenannten mit des öfteren variabel gehandhabtem deklamatorischen Charakter (Chor) oder (Solosopran) besonders eindringlich wirkender melodischer Weiträumigkeit.

Inbegriffen eine Atmosphäre, in der der Gestus des bewegten Erzählens und der Klage des Soprans ebenso verankert ist wie die gelegentlich beschwörend wirkenden Kommentare – nicht selten choraliter oder hymnisch – des Chores. Man liegt wohl nicht falsch, wenn man dem ausdrucksstarken Werk den Charakter eines Bekenntnisses zugesteht. Zumindest haben das Orchester der Bachwoche, der Greifswalder Domchor, vor allem aber auch die Sopranistin Johanna Ihrig und Dirigent Frank Dittmer diesen Eindruck sehr direkt und wirkungsmächtig vermitteln können. Was vor allem als Uraufführung einem „Festival Geistlicher Musik im Norden“ sehr gut zu Gesicht steht!