Ein Beitrag von Ekkehard Ochs
In Greifswald, Stralsund und gelegentlich auch in Putbus (Rügen), also jenen Orten, in denen das Philharmonische Orchester Vorpommern seine jährlichen Konzertreihen anbietet, weiß man seit langem deren attraktive, weil abwechslungsreiche Programme zu schätzen. So auch kürzlich wieder, als man mit einem durchweg „amerikanischen“ Abend am Theater Vorpommern Bezug auf den im gerade vergangenen Jahr stattgehabten 150. Geburtstag Serge Koussevitzkys nahm. Dies in mehrfacher Hinsicht. Koussevitzky (1874-1951), in Russland geboren und zunächst bestaunt als Kontrabassvirtuose, später dann grandioser, international gefeierter Dirigent – davon 1924 bis 1949 als Chef des unter seiner Leitung berühmt gewordenen Boston Symphony Orchestra. Als solcher war er unermüdlicher Interpret und Förderer neuer Musik (zahlreiche Aufträge und Uraufführungen), darunter von Komponisten wie Leonard Bernstein (1918-1990) und Samuel Barber (1910-1981). Die beiden Letztgenannten waren dann auch im Programm des hier zur Rede stehenden Konzertes vom 15. Januar in Stralsund – vorher auch in Greifswald – vertreten: Ersterer mit seinem dem 100.Geburtstag der Boston Symphony gewidmeten Divertimento für Orchester (als ein Auftrag der Koussevitzky-Foundation 1980), Letzterer mit seiner 2. Sinfonie op. 19, die Koussevitzky – seit 1941 amerikanischer Staatsbürger – selbst in Auftrag gab und am 3. März 1944 auch uraufführte. Schließlich erklang der Meister auch selbst. Und dies mit seinem Kontrabasskonzert fis-Moll op. 3, das er als Solist am 2. Feruar 1905 in Moskau mit aus der Taufe gehoben hatte. Wer wollte bei solch einem Programm nicht gehörig die Ohren spitzen und die kleinen grauen Zellen in der darüber liegenden Etage registrierend und vergleichend gleich mit einspannen!
Denn neugieriges Hinhören lohnte, zumal sich das Philharmonische Orchester Vorpommern unter Alexander Mayer, 1. Kapellmeister und stellvertretender GMD, ausgesprochen spielfreudig präsentierte. Für einen Muntermacher wie Bernsteins Divertimento also gerade richtig. So waren sie denn äußerst prägnant und dynamisch wünschenswert differenziert zu erleben, diese acht Miniaturen mit ihrer so charakteristisch „amerikanischen“ Klangwelt zwischen tänzerischer Leichtigkeit und klanglichem Bombast, zauberhafter Grazie, meditativer Stille und schmissiger, auch witziger Verve; vom klanglichen Reiz ständig wechselnder Instrumentation ganz zu schweigen. Eine orchestrale Visitenkarte, die an kunst- wie anspruchsvoller Unterhaltsamkeit nichts zu wünschen übrig ließ.

Mit der demonstrativen Popularität eines solchen Werkes kann (und will) Koussevitzkys Kontrabass-Konzert natürlich nicht mithalten. Es ist die Gelegenheitsarbeit eines Virtuosen, der das magere solistische Repertoire für sein Instrument zu erweitern sucht. Und das so kenntnis- wie erfolgreich. Eine Uraufführungskritik lobte „echtes Gefühl und lebhaftes Temperament“, was denn auch am Konzertabend durchaus nachvollziehbar schien. Musiksprachlich bewegt sich das Werk ganz auf der Ebene Tschaikowskis, Rachmaninows, gelegentlich auch Dvořaks. Dominant also der pure, hier allerdings betont kontrastarme, softige Wohlklang und die Betonung sanften, lang sich ausschwingenden Melodisierens, das – nicht ohne auch virtuose Attitüde – allerdings ganz der kompositorischen Absicht entsprechen dürfte: dem Part des Kontrabasses ein neues, singuläres Profil zu verleihen. Und das in jeder Hinsicht. Wie schon 1905 – siehe Kritik – durfte man deshalb auch in Stralsund staunen. Denn was der noch junge Wiener Dominik Wagner (*1997) bot, war nicht weniger singulär. Rezensent hatte gerade erst vor wenigen Wochen bei den Festspielen MV in Ulrichshusen das Vergnügen, eben jenen bereits ganz oben angekommenen Senkrechtstarter mit gänzlich ungewöhnlichen Solodarbietungen erleben zu können. Nun der Punkt noch oben drauf! Wagner handhabt sein Instrument mit kaum für möglich gehaltener Leichtigkeit. Sein Ton ist von bestechend rundem, vollem, fesselndem Wohlklang, seine Spieltechnik atemberaubend. Aber auch nur mit solchen Qualitäten kann man dem Koussevitzky-Konzert das beabsichtigte Profil verleihen. Und dazu gehörte auch am Stralsunder Abend ein Orchesterpart, der es nicht bei wohlfeil „schönem“ Wohlklang beließ, sondern dem nicht ganz ohne eklektische Züge auskommenden „Romantiker“ alle Vorteile differenzierter gestalterischer Feinarbeit angedeihen ließ. Im Saal hat man sich davon sehr angesprochen gefühlt und der so unanstrengend wohlklingenden Gemeinschaftsarbeit von Solist und Orchester heftig applaudiert.
Gewichtiger Schwerpunkt des Abends aber war Samuel Barbers 2. Sinfonie. Geboren 1910, geriet der Komponist nach seinem Adagio für Streicher – bis heute vielgespieltes Kultstück – sowie vielen anderen Werken schnell auch ins Blickfeld von Koussevitzky, der Jahre später (1943) im Auftrag der US- Air Force eine patriotische Sinfonie über „amerikanische Flieger“ bei ihm bestellte. „Mein Lieber, du wirst eine neue Sinfonie für mich schreiben und sie wird wunderbar sein. Ich bin nicht besonders religiös. Aber ich glaube doch daran, dass aus der Kombination von Enthusiasmus und Schicksal Werke entstehen können…“ Barber nahm an, recherchierte, nahm an Flügen teil, sprach ausführlich mit Piloten – etwa über technische Details von Flugtechnik oder Gefühle beim Fliegen. „Wie ich das in Musik ausdrücken soll, weiß ich nicht, aber die Gespräche, die ich mit ihnen führte, waren wunderbar. Irgendwie werde ich versuchen, einige ihrer Gefühle auszudrücken.“
Hier also wäre die Hörer*innen samt ihrer Fantasie gefragt. Ein Programm gibt es nicht. Allenfalls ließen sich assoziativ gemeinte musikalische Figuren und Phrasen in den beiden Ecksätzen benennen; Barber selbst hat allerdings (in einer Revision des Werkes von 1947) den so nachdenklichen wie klangdichten langsamen Mittelsatz später als „Nachtflug“ bezeichnet – und separat als op. 19a veröffentlicht.
Erstmals mit diesem Werk konfrontiert, bleiben zunächst viele prägnante Einzeleindrücke im Gedächtnis: hohes Tempo, viel Bewegung, Erregtheit, intensive Melodik, Lyrik einerseits, hochdramatische Elemente andererseits, stärkste Klangintensität und Stringenz – der Eindruck von markanter Rhetorik und die deutliche Absicht zu unmittelbarer, bedeutender sinfonischer Aussage. Das Ganze in erweiterter Tonalität mit bewusstem Gebrauch charakteristischer Dissonanzen. Das fesselt, nimmt mit, kann gar überrumpeln und lässt so schnell nicht los, wenn überhaupt.

Für Letzteres sorgten Dirigent und Orchester mit einer sehr konzentrierten, rhythmisch äußerst griffigen und mitreißenden Aufführung. Für eine das Ganze überschauende, auch strukturell besser klarer darstellende Einschätzung müsste man das Werk sicher mehrmals hören. Dann auch wäre das eher nachvollziehbar, was der Rezensent der New York Herald Tribun nur wenige Tage nach der Uraufführung anlässlich einer auch von Koussewitzky geleiteten New Yorker Aufführung am 10.März 1944 recht kritisch anmerkte (und begründete): dass das Werk sich als „Verherrlichung“ der Luftwaffe einer „Reklame-Aufgabe“ gestellt und „mit viel Nachdruck unzulängliches Material ausgebreitet“ habe, für das der Komponist „wenig Geschmack und wenig Eignung“ zeige.
Von solch einer (sehr stilkritisch orientierten) Einschätzung dürfte man in Stralsund weit entfernt gewesen sein. Und das auf wie vor der Bühne! Werk wie Aufführung wurden rechtens begeistert gefeiert. Nicht zuletzt als bereicherndes Beispiel für eine uns stilistisch wie mental wenig bekannte, aber hochinteressante sinfonische Orchesterkultur.
Titelbild von Peter van Heesen.