Ein Beitrag von Ekkehard Ochs
Das vor allem in Greifswald mit einem überaus umfangreichen Veranstaltungsangebot gefeierte Caspar-David-Friedrich-Jubiläumsjahr geht seinem Ende entgegen. Und dies kürzlich musikalisch mit einem vokalsinfonischen Höhepunkt, der das Gedenken an den in Greifswald geborenen wohl bedeutsamsten Maler der Romantik (250. Geburtstag) mit dem eines anderen (romantischen) Jubilars, nämlich Anton Bruckners, verband (200. Geburtstag). Ereignisort war Greifswalds Dom St. Nikolai. Hier vereinten sich am 23. November im Rahmen des „Greifswalder November“ – einer bereits langjährig existierenden Konzertreihe – der Greifswalder Domchor, der Figuralchor der St.-Johannis-Kantorei Rostock (KMD Prof. Dr. h. c. Markus J. Langer), die Poznaner Sinfoniker (Polen) und ein Solistenquartett mit Miriam Meyer (Sopran), Stine Marie Fischer (Alt), Martin Lattke (Tenor) und Stephan Klemm (Bass) zur Aufführung zweier Werke: Gerd-Peter Mündens „Und ich sah einen neuen Himmel“ für Chor und Orchester sowie Anton Bruckners Messe Nr. 3 f-Moll für Soli, Chor und Orchester. Die Leitung hatte Prof. Frank Dittmer, Professor für Kirchenmusik mit Schwerpunkt Chorleitung am Institut für Kirchenmusik und Musikwissenschaft der Universität Greifswald und Leiter der Greifswalder Bachwoche. Geballte Fachkompetenz also, die sich um Friedrichs romantische, den Himmel und damit Himmlisches darstellende Bilderwelt, Bruckners offensichtliche himmlisch-mystische musikalische Charakterzüge sowie Mündens ganz auf Visionäres zielendes „Und ich sah einen neuen Himmel“ (Offenbarung Johannes 21, 1-22,6) versammelte.
Letzteres – zehnminütig, ein Auftragswerk als Uraufführung – orientierte sich bewusst ganz am Werk Bruckners: die gleiche Besetzung, eine klanglich nahezu identische, auch Bruckners Hauptmotiv nutzende musikalische Sprache (!) samt entsprechender Struktur und Gestik. Gerd-Peter Münden (*1966), ein erfahrener Kirchenmusiker, Chorleiter und Komponist, weiß zu instrumentieren und das Brucknersche Klang„Rezept“ attraktiv zu nutzen. Nicht ganz so blockhaft und flächig wie sein Vorbild, wechselt die breite Ausdruckspalette zwischen (auch leisem) softigem Streicherklang und umwerfend voluminösem Orchestertutti, der Sphäre des Besinnlichen, gelegentlich auch Tänzerischen und der blechgepanzerten, visionären fff-Gewissheit von der Ankunft einer neuen Welt, eines neuen Himmels, eines himmlischen Jerusalems. Das verweist wohl direkt und bewusst auf Bruckner.
Für die beiden Chöre war dies an jenem Abend eine erste, überzeugend gemeisterte Hürde, wobei – im Dom immer gegeben – auch akustischen Tücken begegnet werden muss. Der Wirkung des Werkes selbst tat das wenig Abbruch. Die Absicht war klar, das Konzept erkennbar, die künstlerische, in ihrer mit Deutlichkeit den Text ausdeutenden Wiedergabe, überzeugend; was nicht zuletzt der herzliche, dem Werk, dem anwesenden Komponisten und den Ausführenden geltenden Beifall zeigte. Ob musiksprachlicher und damit problematischer Rückfall ins 19. Jahrhundert oder pragmatischer Versuch, eine spezielle Aufgabe auch speziell zu lösen und ob musikästhetisch geglückt oder nicht – das musste an jenem Abend der Hörer jeweils für sich selbst entscheiden. Hinsichtlich Bruckners erübrigte sich natürlich solcherart denkbare Gratwanderung. Als in der Tradition vor allem Beethovens (Missa solemnis), Liszts (Graner Messe) und anderer stehend, ist diese 1872 in Wien vom Meister selbst uraufgeführte und später mehrmals (im Orchestersatz) umgearbeitete 3. Messe in f-Moll ein Meilenstein in der Entwicklung der großformatigen „Orchestermesse“. Sie bezieht einen Chor, Vokalsolisten und sinfonisch besetztes Instrumentalensemble ein (und lässt nicht zuletzt deshalb auch an Aufführungen im Konzertsaal denken). Entsprechend hoch sind die interpretatorischen Ansprüche. Ihnen stellten sich die beiden Chöre mit spürbarem Selbstbewusstsein. Sie schauen auf langjährige oratorische Traditionen zurück und damit auf eine Menge Erfahrungen. Aber selbst dann bleibt Bruckners f-Moll-Messe eine sängerische wie gestalterische Herausforderung der besonderen Art; zumal für nichtprofessionelle Ensembles. In Greifswalds Dom allerdings konnte man sich schnell (und soweit harte Holzbänke es zulassen) entspannt zurücklehnen. Der zahlenmäßig recht große Chor erwies sich als gut vorbereitet, ließ keinerlei Unsicherheiten erkennen und agierte selbst als schiere Masse bemerkenswert locker und präzise; vor allem auch in den fugierten Passagen sowie bei den diversen Übergängen. Man konnte überdies auch Leises, was im Zusammenhang mit wohlbedachter und wirkungsmächtiger dynamischen Variabilität für den viel Lebendigkeit und Stringenz besitzenden Kontrastreichtum der Aufführung sorgte. Was dann auch hieß, großen, spannungsvoll sich aufbauenden Crescendi, dann erreichter erratischer Blockhaftigkeit und donnernder Emphase Klangstabilität und Glanz zu verleihen. Damit inbegriffen das spürbare Bemühen, bei nicht selten statisch wirkender, flächiger Anlage mancher Partien den Eindruck bloßer äußerlicher Klanghülle zu vermeiden und hinter klangkolossalischer Anmutung Bruckners in Musik gegossenes „Glaubensbekenntnis“ (Messetext) in aller seiner Ausdrucksvielfalt sichtbar werden zu lassen. „Mystisches“ muss man da erst gar nicht bemühen. Gewiß, ein so großer Raum macht manches Bemühen undeutlich oder gar wirkungslos und lässt manche Feinheit auch unentdeckt. Umso wichtiger ein klanglich ausgewogenes Verhältnis von Chor, Orchester und Solisten, das hier gelegentlich suboptimal ausfiel. Aber das Ohr gewöhnt sich schnell an bestimmte akustische Bedingungen.
Für das Chorische waren da also wenig Einbußen zu erkennen. Und für das ausgezeichnete Orchester schon gar nicht. Die Gäste aus Polen garantierten der Aufführung jenen genuin sinfonischen Charakter, den diese Messe in hohem Maße (und quasi als „Vorfeld“ ja erst danach kommender gewaltiger Sinfonik) besitzt. Auch dies mit beeindruckender, dynamisch fein justierter Gestaltungsfähigkeit und – in schöner Gemeinsamkeit mit dem Chor – mitreißender Stringenz.
Als dritte im Bunde und verantwortlich für eine weitere, wichtige „Farbe“ im Messe-Geschehen durften auch die Protagonisten des Vokalquartetts größte Aufmerksamkeit verdienen. Nicht zuletzt als Souveräne ihres jeweils im Programmheft ausführlich biographisch bedachten Faches – dem nach der Aufführung nichts hinzuzufügen war: große, charaktervolle Stimmen, solistisch wie im Verbund von eindrucksvoller Gestaltungsfähigkeit – und, akustisch bedeutsam, mit Durchschlagskraft! A propos Programmheft. Es war wieder das Ergebnis einer musikwissenschaftlichen Seminararbeit (Schreiben über Musik) an der Universität, der man allerdings auch einige Zeilen zu den Chören, vor allem aber zum in Greifswald gänzlich unbekannten Orchester gewünscht hätte. Vertreten natürlich Prof. Frank Dittmer als Dirigent des Abends (und mit Prof. Langer der des am Tag darauf folgednden Konzerts in Rostock), Er hatte das so vielseitige wie oft dramatische Geschehen jederzeit fest in der Hand. Ein souverän gestalteter Abend, dem man im Dom St. Nikolai gern jede Menge Beifall zollte.