Neue Musik. Gut. Gibt es auch. In den Konzerten die ich besuche meist reserviert konsumiert, und selbst unter meinen Klassikfreunden fast immer kritisch betrachtet. Es fühlt sich an, als sei sie innerhalb meiner bereits extravaganten Vorliebe für klassische Musik nochmal eine Enklave. Und je mehr mich die Neue Musik vereinnahmt und aufsaugt wie ein Staubsaugerrohr ein Geldstück, desto mehr bedaure ich diesen Zustand. Wenn wir dieses dennoch schon viel beschriebene Thema nur aus der Sicht der Kulturschaffenden betrachten, dann ist das löblich. Aber nicht genug. Zu allen notwendigen Änderungen auf deren Seite kommt die essenziell wichtige Frage, wie Konzertbesucher und Konsumenten klassischer Musik den Zugang zur neuen Musik finden können. Das klingt wie eine Floskel, ist hier aber tatsächlich eine zentrale Problemstellung. Ich erlebe das oft selbst. Beim Auffüllen meiner Erfahrungen im Konzertbetrieb komme auch ich von einer klassischen Sozialisation her. Immerhin habe ich in meinem Elternhaus viel klassische Musik gehört. Neueres oder Zeitgenössisches gab es aber eher selten. Und so ergeht es mir heute ähnlich wie Vielen, wenn ich mich auf ein Konzert vorbereite, welches auch ein aktuelles Werk enthält. Dann bin ich bei diesem Teil erstmal zögernd. Aber dann werde ich in das Werk hineingezogen, bin fast schockiert wieviel ich entdecke und erlebe mit der Musik. Welche Kombinationen von Gefühlen angesprochen werden können. Und immer wenn das Konzert dann stattfindet ist mir das neue Werk das Liebste. So bin ich immer noch ein Crétin, doch ich habe Hoffnung durch diese Art der kulturellen Erfahrung die ich mache, indem ich mir die Sachen einfach reinziehe. Und dann habe ich eine große, neue Welt zur Verfügung. Aber wie können nun andere Konzertbesucher auch diese Schwelle überwinden?
Mein Neffe geht auf ein Gymnasium mit musikalischer Ausrichtung. Er kann mir viel über die Pastorale erzählen. Das ist auch gut. Aber neue Musik? Wird auch erwähnt. Aber vielleicht könnten wir hier den Spiess mal umdrehen. Musik im Unterricht zwar von der alten Musik ausgehend zu betrachten um Grundlagen zu schaffen, immer aber mit dem Ziel bei der aktuellen Musik anzukommen, und nach vorn zu blicken. Diese Verschiebung des Schwerpunktes in den Lehrplänen würde Grundlagen legen für einen generellen Perspektivwechel gegenüber neuer Musik, und den Hörern letztlich mehr Möglichkeiten an die Hand geben, sich der Musik zu öffnen und sie zu genießen. Denn klassische Musik ist ja zum genießen da, wie uns Klassikradio beharrlich versucht zu vermitteln.
Ein weiterer Punkt der eine Rolle spielt ist die heute geltende Aufmerksamkeitsspanne. Die ist natürlich von Mensch zu Mensch verschieden. Aber selbst wenn wir nicht einen “Smombie” wie mich voraussetzen, neue Werke erfordern dass man sich mit ihnen beschäftigt. Länger. Über einen längeren Zeitraum als andere Musik. Es geht nicht darum sich die Sachen schönzuhören. Neue Musik ist eben anders, man muss ihre Sprache lernen. Das wird leichter wenn wir zum Beispiel in der Schule mehr Voraussetzungen dafür bekommen haben (siehe oben). Bestimmt bleibt dieses Hineinfinden eine Anstrengung die jeder vollbringen muss, aber mit generellen kulturellen Änderungen können wir das erheblich erleichtern. Mehr und gezieltere Konzerteinführungen vor den Konzerten, mehr inhaltliche Besprechungen und Analysen aktueller Werke in populären Medien. Ein Beispiel ist die Einführung von Herbert Blomdtedt In das von ihm viel gespielte Stück Poesis von Ingvar Lidholm. Solche Texte machen Neue Musik greifbar. Wenn im Januar 2017 die Elbhilharmonie eingeweiht wird, werden mehrere teils extra dafür beauftragte neue Werke gespielt. Vielleicht werden ja diese bei Berichten in populären Medien, in der Nachrichtensendung, als Klangbeispiel ausgewählt. Wichtig wäre es.
Neue Musik muss man erleben, auch sehen. Dabei helfen manchmal auch Videoaufnahmen von Konzerten. Es gibt einige tolle Beispiele die das eindrucksvoll zeigen, wie der Film der Göteborgs Symfoniker unter Kent Nagano in dem sie Beast Sampler von Anders Hillborg spielen. Durch geschickten Schnitt und Kameraführung sieht man wie Klänge und Geräusche mit den verschiedenen Instrumenten erzeugt werden, und wie sie sich in einen größeren Kontext einbetten. Die Intention der Musik wird dadurch verständlicher und plastischer. Auch bei Barbara Hannigan und dem London Symphony Orchestra kann man das erleben. Zwar enthält diese Aufführung für die Klassikszene viele Showelemente, sieht man jedoch an diesen vorbei und konzentriert sich auf die Musiker so erlebt man wie die Klänge entstehen, was dabei wichtig ist und wieviel Aufwand in die Klangerzeugung gesteckt wird. Zu solchen Videos habe ich selbst von ansonsten eher klassikfernen Bekannten äusserst positive Reaktionen gehört.
Mit einem schnell gefassten, in unserer Informationsgesellschaft gelernten “Mir gefällt das einfach nicht” kommen wir der Neuen Musik nicht nahe genug. Ich glaube auch nicht dass nach längerem Hören Jeder neue Werke toll finden wird. Meine Frau werde ich mit dieser Argumentationsweise wohl nicht für das Thema herumkriegen, auch wenn ich es mir noch so sehr wünsche. Wie gerne würde ich mit ihr Beast Sampler hören, und mit ihr zusammen die Aufregung in dieser Musik erleben. Am liebsten in einem Konzert!
Das wäre dann wahrscheinlich ein sogenanntes Sandwich-Konzert. Diese unsägliche Bezeichnung für Abende, an denen ein neues Werk, vorne und hinten flankiert von älteren Stücken, möglichst konzertbesucherfreundlich in die Mitte des Programms gemischt wird. Aber obwohl ich mich lange darüber geärgert habe finde ich die Bezeichnung mittlerweile passend. Denn wo befindet sich bei einem Sandwich der attraktivste und leckerste Teil? …richtig!