Ein Beitrag von Ekkehard Ochs
Nach dem Festival ist vor dem Festival! Noch hat man die fulminanten sinfonischen Abschlussklänge der Festspiele MV im Ohr (Neubrandenburg), da wird in Vorpommern schon zum nächsten großen Musikevent geladen. 30 Jahre Usedomer Musikfestival – so heißt es seit der Eröffnung am 22. September und bis zum 12. Oktober auf Deutschlands „Sonneninsel“, die sich in diesem Jahr und zum wiederholten Male unter dem Generalthema „Polen“ ihren zahlreichen und treuen Fans empfiehlt. Dies opulent mit 21 Veranstaltungen, zumeist Konzerten, an 13 verschiedenen Orten und – natürlich – höchst abwechslungsreichen Programmen sowie – ebenfalls selbstverständlich – musikalischen Spitzenkräften aus dem Nachbarland.
Schon der Start geriet nahezu sensationell: ein polnischer Weltstar als Sänger, eines der besten Spezialensembles für alte Musik aus Italien und ein Programm, das (vorwiegend) mit (Opern-)Musik des 16. und 17. Jahrhunderts das Publikum in der rappelvollen großen gotischen Backsteinkirche St. Petri in Wolgast zu heftigen Beifallsstürmen hinriss. Wie auch nicht, wenn der Gesangssolist Jakub Józef Orliński mit einer bemerkenswerten Biographie, die übrigens auch das Modeln (Nike, Levi`s) und den Breakdance sowie (mit Freundin) den Entwurf einer Schmuckkollektion aufweist, zu den weltbesten Countertenören zählt und mit dem Ensemble Il Pomo d´Oro (Leitung Alfia Bakieva) eine Spezialistentruppe gewonnen werden konnte, über die sich lobende Wort mit denkbar größter Selbstverständlichkeit eigentlich erübrigen.
Das Ergebnis: ein Abend grandioser Musik und bestechend authentischer Interpretationskunst. Der Bogen spannte sich von Claudio Monteverdi, Giulio Caccini, Girolamo Frescobaldi und Barbara Strozzi – Sängerin u n d Komponistin! – bis zu Francesco Cavalli, Giovanni Cesare Netti, Antonio Sartori und Sebastiano Moratelli. Mithin umfasste er jene schon um 1600 als „neu“ und überaus kühn empfundene vokal-instrumentale Kunst, die mit neuen Ausdrucksformen (Rezitativ, Arie, Chöre, Sologesang, Tanz) als Geburtsstunde der Oper (dann auch Kantate und Oratorium) den Lauf künftiger musikalischer Entwicklungen entscheidend prägte. Und von wegen „alt“! In den richtigen, also historisch informierten Händen, gerät diese Musik auch heute noch zur Urerfahrung hochdramatischer, buchstäblich unter die Haut gehender Kunst. Und das will nach dem riesigen Erfahrungsrucksack, den wir heute mit der Opern-Kenntnis des 19. und 20.Jahrhunderts mit uns herumtragen, einiges heißen. Allerdings braucht es Protagonisten vom Schlage der oben Genannten. Nur sie garantieren jene unverschlissen Innerstes berührende Direktheit und Eindringlichkeit musikdramatischer Gestaltung, mit der unsere (nur historisch gesehen) „alten“ Meister Musik und Musikgeschichte schrieben.
Beim Usedomer Musikfestival in Wolgast wurde das auf berührende Weise deutlich. Da war es Jakub Józef Orliński, der mit makelloser, überwältigender Stimmkultur (in Mezzosopranlage) und nahezu süchtig machender, ungemein fesselnder Ausdrucksintensität eine Musik verlebendigte, die sich schon mit ihrem Entstehen als kostbarstes Zeugnis menschlichen Erfindungsgeistes präsentierte. Was für eine technische und klangliche Beherrschung des Instruments „Stimme“, was für ein Reichtum an Ausdrucksnuancen. Und was für eine Souveränität im Umgang mit einer Empfindungswelt, deren deklamatorische, rethorisch so ungemein griffige wie wohl auch immer wieder neu zu entdeckende Gestaltungsspezifika erst die Faszination dieser alten Musik ausmachen; inbegriffen ein Instrumentalpart, der mit komplettem Streichersatz – gelegentlich auch einem Blasinstrument (Zink) – und hier mit Cembalo, Harfe, Theorbe (Erzlaute) und/oder Barockgitarre, Gambe und Violoncello besetztem Generalbass ungemein klangvariabel und -intensiv besetzt war. Quasi eine weitere, verständnisfördernde und als solche unverzichtbare „Stimme“. Womit die interpretatorischen, nur auf sehr viel Papier aufzuzählenden Qualitäten und Verdienste des Ensembles Il Pomo d´Oro (der Name ist Titel einer 1666 spektakulär inszenierten Oper von Antonio Cesti) zumindest annähernd beschrieben wären. Rein instrumental waren sie an diesem Abend mit umwerfend inspiriert gebotenen Werken von Biagio Marini, Johann Caspar von Kerll, Carlo Pallavicino und Adam Jarzȩbski zu vernehmen.
Eine weitere Gestaltungskomponente das Abends wäre noch zu nennen: Orliński gestaltete das ohne jede Pause musizierte Programm mit (zumeist gemessenen) Bewegungsabläufen vor dem Orchester, gelegentlich auch dahinter, dem Sitzen auf Altarstufen, aber auch – und dann sehr auf das Einzelstück ausgerichtet, mit einer kleinen szenischen (alte, krumme Frau) oder auch sportlich artistischen Einlage. Wohin auch sonst mit den unglaublichen, oft genug herzzerreißenden Emotionen – man vergegenwärtige sich mal die Texte! – die da permanent und höchst emphatisch zu vermitteln sind!
Was bleibt? Der Eindruck authentisch verlebendigter Musikgeschichte und künstlerische Erlebnisse von stärkster Nachhaltigkeit beim Usedomer Musikfestival.
Titelfoto © Geert Meciejewski