Laut UNO beläuft sich die Zahl der sich derzeit auf der Flucht befindlichen Menschen weltweit auf über 80 Millionen – Tendenz steigend. Darunter sind eine große Zahl Flüchtlinge und Asylsuchende, die ihre Heimat aufgrund diverser Ursachen verlassen mussten, aber immer auch mit der Hoffnung und dem Willen, sich ein besseres Leben zu erkämpfen. Auch die Zahl der in Sklaverei lebenden Menschen – sei es in Zwangsarbeit, Menschenhandel oder anderen ausbeuterischen, menschenunwürdigen Verhältnissen – wird auf bis zu 40 Millionen geschätzt. In Anbetracht dieser Problematik hätte die Wiederentdeckung von Karol Rathaus Oper Fremde Erde nicht passender sein können. Das 90 Jahre junge Werk beschäftigt sich mit den gravierenden Folgen von Kapitalismus und Globalisierung und ist damit so aktuell wie nie.
Fremde Erde wurde 1930 unter der musikalischen Leitung keines geringeren als Erich Kleiber in der Staatsoper Berlin uraufgeführt. Der jüdische Komponist, der sich auch besonders mit Filmmusik einen Namen machte, verließ jedoch schon ein paar Jahre später aufgrund der politischen Entwicklungen das Land und emigrierte nach diversen Stationen in London und Paris in die USA. Nach der Machtergreifung der Nazis wurde seine Musik als entartet eingestuft und mit einem Aufführungsverbot belegt. Und so ist es wohl bittere Ironie, dass dem Komponist ein ähnliches Schicksal wie dem Helden seiner einzigen Oper ereilte.
Fast 60 Jahre lang pausierte die Aufführung der in Vergessenheit geratenen Oper; erst 1991 gab es in Bielefeld wieder eine Neuinszenierung und nun nahm sich auch das Theater Osnabrück diesem Werk an und setzt so sein für Uraufführungen und Raritäten bekanntes Repertoire fort.
Karol Rathaus, einstmals Lieblingsschüler von Franz Schreker, lässt in seiner Musik viele Einflüsse und unterschiedlichste Stile durchklingen. Kurt Weill, Jazzmusik, aber auch Bartók, Richard Strauss und Strawinsky scheinen durch. Fremde Erde ist reichhaltig, spannend und gefüllt mit genreübergreifenden Pastisches. Besonders seine Erfahrung mit Filmmusik klingt immer wieder durch – oft verstärkt die Musik gesungenes, kündigt etwas an und ist so immer Hauptspannungsträger.
Das Osnabrücker Symphonieorchester unter der Leitung von Andreas Hotz setzte die so reichhaltige Partitur gekonnt und mit großem Orchesterapparat um. Die Musiker*innen schufen trotz inhaltlich schwerer Kost eine spannungsreiche und kurzweilige Interpretation, die atmosphärisch dicht gelang und die Einzigartigkeit dieser Musik zusätzlich unterstrich.
Das Libretto von Kamilla Palffy-Waniek erzählt das Einzelschicksal eines vom Leben gezeichneten und vom Kapitalismus ausgebeuteten Menschen, dessen Wert sich lediglich nach seiner Arbeitskraft richtet. Dennoch lässt er sich vom System verführen – die Hoffnung auf ein besseres Leben wird nicht aufgegeben. Im Mittelpunkt der Handlung steht der Osteuropäer Semjin, der mit seiner Verlobten Anschutka und ihrem Vater, in der Hoffnung auf ein besseres Leben, in die „neue Welt“ aufbricht. In einer südamerikanischen Salpetermine will er sein Glück versuchen, doch gerät an die sinnlich verlockende Minenbesitzerin Lean Branchista, die ihn mit gezielter Erotik und allerhand hohen Tönen zu verführen versucht, was ihm jedoch bald zum Verhängnis wird. Darstellerisch verkörpert Susann Vent-Wunderlich das recht einseitig und antiquiert gezeichnete Frauenbild auf passionierte Art und Weise. Als entfesseltes, macht- und liebeshungriges Weib beeindruckte sie stimmlich mit ihrem strahlenden, metallisch gefärbten Sopran.
Die einfache aber direkte und zielgerichtete Bildsprache des Regisseurs Jakob Peters-Messer und seinem Ausstatter Markus Meyer schafft eine zugängliche Inszenierung, die die menschenverachtende und -vernichtende Maschine des Kapitalismus visualisiert – im Hier und Jetzt. Die Oper beginnt mit der Überfahrt der osteuropäischen Menschen, die wie eine Handelsware in einem Überseecontainer gezwängt sind und erschöpft ihr Schicksal erwarten. So trostlos wie der Ausgang der Oper, so ist auch das Bild im letzten Akt, als die resignierten und ausgebeuteten Arbeiter*innen im gleichen Container wieder zurück in ihre Heimat reisen.
Symbolträchtig, am Fuße der Freiheitsstatue, warten für Semjin nicht die unbegrenzten Möglichkeiten, stattdessen aber das Wissen um den Betrug und die Mitschuld am Tod seiner Verlobten (von Olga Privalova als liebevolle aber verletzliche Anschutka dargestellt). So bleibt ihm nur der Wunsch nach einer Arbeit, „an der man schnell krepieren mag.“
Nach drei Stunden schloss sich der Vorhang und ließ wohl bei so manchem Gast ein mulmiges Gefühl zurück. Dem Theater Osnabrück gebührt großer Dank, für ihre Entscheidung, diese Oper gerade in der Weihnachtszeit zu zeigen – fernab leichter Kost wie der Fledermaus oder Hänsel & Gretel. Lediglich ein bisschen mehr Mut bei der Bearbeitung des Librettos wäre wünschenswert gewesen. Durch kleine wenn auch gekonnte Kürzungen der Oper hätte sie dramaturgisch intensiver und mit größerer Durchschlagskraft wirken können. So merkt man ihr an, dass ihr Komponist diese nicht mehr überarbeiten konnte. Dennoch ist die Wahl der Sujets in Fremde Erde so treffend und aktuell wie nie und führt uns schmerzlich vor Augen, wie schnell Heimat und Freiheit unwiederbringlich verloren gehen können.
Programm
Fremde Erde
Libretto von Kamilla Palffy-Waniek
Oper von Karol Rathaus
Oper・Theater am Domhof, Osnabrück
Vorstellung vom 28.12.2021
Titelfoto: Stephan Glagla