„Voyagers“ nennt sich eine innovatives Aufführung, die bei ihrer Uraufführung im Theater Marl Musik, Tanz und Licht zu einer eindrucksvollen Gesamterfahrung vereinte. Komponist André Buttler schuf eine komplexe Klangwelt, die von Melanie Drüke choreografisch in dynamische Bewegung umgesetzt wurde. Zehn Tänzerinnen formten eine lebendige soziale Skulptur, während die Musik mit harmonischen Wendungen und Spannungen das Publikum zu intensivem Zuhören anregte. Das Werk sprach ein breiteres, jüngeres und kulturell vielfältigeres Publikum an und eröffnete neue Perspektiven auf alternative Konzertformate.
Kunst braucht Visionäre, die Konventionen in Frage stellen und Grenzen auflösen. Dass der Marler Komponist André Buttler solche Ambitionen ernst nimmt, bewies sein neuestes Werk „Voyagers”, das im Theater der Stadt Marl seine Uraufführung erfuhr. Es war eine Performance, in der 75 Minuten lang die Musik nicht konsumiert, sondern erlebt werden durfte und wo alle Bilder in der Fantasie des Publikums erlaubt waren. Musik, Tanz, Licht und Farben verschmolzen zu einer Einheit, um aus einem tiefen Ruhezustand heraus auf den Lärm der Welt da draußen zu antworten. Der Abend beginnt mit dem Solospiel des Duisburgers André Meisner auf der Duduk, diesem uralten armenischen Blasinstrument, das mit jedem einzelnen, lange ausgekosteten Ton Geschichten erzählen kann. Diese Klänge, zwischen archaischer Tradition und experimenteller Moderne changierend, geben wiederum Raum für das visuelle Geschehen: Unter einem schimmernden Seidentuch erwachten die Tänzerinnen, richteten sich schließlich auf, einem elementaren Erwachen gleich – auch das wirkte wie eine choreografische Metapher für Transformation und Aufbruch.
Dieser Resonanzraum lebt
Zehn Tänzerinnen vom Marler Studio Tanz Kreativ erzeugen unter Melanie Drükes choreografischer Expertise einen lebenden Resonanzraum für alle Emotionen der Musik – dynamisch, in sehr stilisierten, aber auch frei improvisierten Figuren, in rauschhaften Bildern. Oft wirken die Tänzerinnen wie zu einer sozialen Skulptur vereint. Das ist keine dekorative Ergänzung zur Musik, sondern die Verkörperung einer kollektiven Energie, die der Komposition eine philosophische Tiefendimension verleiht. Ihre Bewegungen synthetisieren die präzisen Linien des klassischen Balletts mit den organischen, oft unvorhersehbaren Impulsen des Modern Dance zu einer ganz eigenständigen Bewegungssprache. Und ja, eine solche Leistung von zehn hochmotivierten Laientänzerinnen ist das Ergebnis harter künstlerischer Arbeit und noch mehr gelebter Leidenschaft, welche Melanie Drüke in ihrem seit 20 Jahren engagiert betriebenen Studio bei den Tänzerinnen weckt.
Die feinsinnige Musik des Ensembles fordert zum Eintauchen und konzentrierten Zuhören heraus, wie sie um ein imaginäres Zentrum kreist, aber dabei im Detail extrem durchdacht ist. Oberflächlich mag der Tonfluss gleichförmig wirken, doch darunter offenbaren sich umso mehr Tiefenschichten. Klug eingesetzte Harmoniewechsel erzeugen in ausgesuchten Momenten starke Gefühlswirkungen. Solche Wendungen erzeugen dynamische Spannung, die den Hörer aus der Komfortzone immer wieder herausführen. In einem späteren der zwölf Sätze schiebt sich ein perkussiver, pochender Klavierton zwischen die fließenden Duduk-Klänge – konfrontativ, aber irgendwie auch sehr versöhnlich. Der feinsinnige Klangteppich, den die Streichinstrumente – Felix Kriewald (Violine), Patricia Gildekötter (Violine), Caroline Bernhard (Viola) und Gereon Schmelter (Violoncello) – gewebt haben, tut sein übriges, um lebendig pulsierende Klängen auszubreiten. Und wenn sich fernöstliche Pentatonik mit westlicher Kompositionstechnik mischt, wirkt das nicht plakativ oder aufgesetzt, sondern wie eine globale Gesprächseinladung.
Neue Menschen braucht das Theater
„Voyagers“ hatte schon im Vorfeld eine hohe Anziehungskraft auf andere Personenkreise ausgeübt, als das sonst anwesende Bildungsbürgertum bei den – für eine vergleichsweise kleine Ruhrgebietsstadt durchaus beachtliche – Konzertleben. So wirkte das Altersspektrum deutlich nach unten erweitert und auch die kulturelle Durchmischung stärker als sonst. Und ja, genau darum ging es den Veranstaltenden, die dieses Projekt als kreatives Audience Developement und gesellschaftliches Anliegen begriffen haben wollen, um damit Menschen für alternative Konzepte jenseits des konventionellen „Museumsbetriebes“ im Konzertleben, wie André Buttler es nennt, sensibilisieren möchte. „Voyagers” wirkte in dieser Hinsicht als Einladung, die Welt mit anderen Augen neu zu sehen und auch neu zu hören, wie es auch Marcel Proust philosophisch formuliert, der in den Erläuterungen zum geistigen Hintergrund dieses Projekts im Programmheft zitiert wurde. Dass dies von den vielen Zuhörenden intuitiv erfasst wurde, zeigte der ehrliche, enthusiastische Applaus am Ende dieser „Reise“.