2011 sollte ich zwei „Schlüsselwerke“ der neuen Musik singen: „Il fabbricca illuminata“ von Luigi Nono und „Sequenza III“ von Luciano Berio. In beide Werke habe ich mich tief eingearbeitet und Literatur rund um das Entstehen und die beteiligten Personen gelesen.
Über Luigi Nono bin ich bei der Sängerin, Kuratorin und Autorin Carla Henius gelandet. Sie hat einen Briefwechsel mit Luigi Nono veröffentlicht, in dem es um die Entstehungsgeschichte der Il fabbricca ging. Der Briefwechsel hat mich förmlich hineingezogen, weil er so offen und persönlich war und auch Schwächen und Probleme aufgezeigt hat. Carla Henius hat das Werk so gut wie immer gesungen, aber es gab eine Aufführung in Amsterdam mit einer anderen Sängerin. Und sie teilte Luigi mit, daß das für sie nicht in Ordnung war. Ich hatte bis dato noch nie gelesen, daß ein Künstler zugibt auf einen anderen Künstlerin neidisch zu sein. Wie oft haben wir alle so etwas verspürt, aber keiner gibt es zu. Carla hat ihre Gefühle öffentlich gemacht. Weil sie ehrlich war? Weil sie somit anderen auch die Gelegenheit gibt, zu den Gefühlen zu stehen?
Eifersucht und Offenheit
Die andere Sache, die ich schon fast komisch fand, war die Tatsache, daß die Fabbricca bei Ricordi verlegt wurde, und diese dann auch das zugehörige Tonband zu dem Werk verwalteten. In dem Briefwechsel gibt es zahlreiche Erwähnungen, wo Luigi immer wieder sein Band anfordert und oft bis zum letzten Moment der Aufführung zitterte, ob er sein Band für sein Stück bekommt. Das ist mit den heutigen technischen Möglichkeiten viel leichter. Und auch Ricordi hat das Material überarbeitet und hat juxt 2011 Kaufnoten mit einer DVD mit den Tonspuren veröffentlicht. Seitdem kann eine Sängerin das Werk einmal kaufen und es so oft aufführen, wie sie möchte.
Als ich weiter über Carla Henius forschte, stellte ich fest, wie viele Werke sie uraufgeführt hatte und wieviel Musiktheater sie in Kiel oder Wiesbaden kuratiert hatte. Und dann stieß ich auf ein zweites Buch von ihr mit Texten aus der FAZ, Süddeutsche, Zeit etc. Heutzutage denke ich, sie hätte sicher wie ich einen Podcast gestartet und auch die neuen Medien genutzt. Carla Henius hat Ensembles gegründet, und vielen Komponistinnen den ersten Anstoß zum Erschaffen wunderbarer Werke gegeben, viel initiiert und gleichzeitig spannendes Material und Briefwechsel hinterlassen. Sie war ein Mensch mit vielen Talenten, die auch zum Ausdruck kamen. Wo gibt es solche Persönlichkeiten? Menschen, die sich für die Sache einsetzen, Dinge initiieren, und weit über das rein Sängerische hinausgehen?
Carla Henius – Mehr als eine Sängerin
Ich habe schon immer Menschen bewundert, die voran gegangen sind, und die innovativ sind. Menschen, die das Spiel verändern und nicht nur mitspielen. Menschen, die ihren Staus, den sie dann erlangt haben, nutzen, um etwas zu bewegen, die für eine Sache kämpfen.
Carla Henius war sehr klar in dem was sie wollte, und was sie konnte. Sie wusste auch, wann es Zeit war mit dem Singen aufzuhören. Wie viele Sängerinnen gibt es, die nicht von der Bühne und Aufmerksamkeit lassen können, wenn sie nicht mehr auf ihrer Höhe sind. Nachdem sie mit dem Singen aufhörte, kuratierte sie noch mehr.
Ich bin ihr auch sehr dankbar, daß sie so viel hinterlassen hat. Oft frage ich mich, warum gibt es so gut wie keine Biographie von Neue Musik Interpretinnen. Wir haben etwas zu sagen und sicher auch Spannendes und Witziges erlebt. Ist es noch zu früh dafür? Ich würde gerne die Biographie einer Salome Kammer lesen oder auch einer Carla Henius, die es übrigens nicht gibt. Als Sängerin habe ich von klein auf Biographien gelesen, um mich zu inspirieren und herausfinden, wie das Leben einer Sängerin sein kann. Wann fügen wir Biographien von Salome Kammer, Carla Henius, Cathy Berberian usw. hinzu?
Eidesformel fürs Musikmachen
Im Buch mit den Texten von Carla gibt es eine Passage, die sie zitiert. Sie überträgt die Eidesformel vom Gericht auf das Musikmachen: „Sage die Wahrheit, die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit – ohne etwas hinzufügen und ohne etwas wegzulassen.“ Damit setzt sie die Anforderung und Meßlatte für die Interpretinnen sehr hoch, aber genauso ist es. Spiele was dasteht, so vollständig und wahrhaftig wie möglich, lasse nichts weg. Beachte alle Dynamikzeichen. Aber füge nichts hinzu, um das Werk zu verfremden oder irgendwelche Gimmicks hinzufügen. Das ist das tägliche Brot von uns Musiker*innen. Carla hat dies in allem was sie tat vorgelebt. Sie hat ihr Bestes gegeben und das Beste von den anderen gefordert. Und sie war sich selber treu. Dies sind Eigenschaften, die ich in einer Künstlerin bewundere und die auch meinen Weg leiten.
Titelfoto © Stadtarchiv Kiel