Einfach Klassik.

Einfach Klassik.

Nicht Reproduzierbar!

Böses Streaming! Musik-Streamingdienste werden zur Zeit oftmals kritisch gesehen. Sei es die Schallplatte oder CD, die nicht mehr physisch im Regal anwesend ist, oder die noch nicht zu Ende gedachte Entlohnung der Künstler. Seis drum, ich benutze sie dennoch gerne. Wir leben in einer Welt der Flatrates, und Streaming ist eine für Musik. Auch wenn das VAN Magazin neulich in einem tollen und kompletten Artikel das Angebot vieler Dienste im Klassikbereich kritisiert hat, so bin ich doch zufrieden. Ich finde in den allermeisten Fällen eine Vielzahl an Aufnahmen eines Werkes. Habe direkten Zugriff, in Sekundenschnelle, auf einen Großteil der existierenden Aufnahmen. Dann kann ich vergleichen indem ich direkt zu bestimmten Stellen springe und diese zwischen Aufnahmen vergleiche. Das war vor nicht allzu langer Zeit noch Zukunftsmusik. Und so ist es zu meinem Alltag geworden alles zu haben und alles erreichen können.

Wirklich alles? Nein, neulich trug es sich zu dass ich diese hundertprozentige Abdeckung verloren habe. Die von mir besprochene Premiere des neuen Violinkonzertes von Andrey Rubtsov war ein beeindruckendes Erlebnis, in erster Linie weil die Komposition ein wunderbares Stück Musik ist. Vor und nach dem Konzertabend schlug ich mich also ins Netz um erste Aufnahmen davon zu ergattern und fand: Nichts. Ich wiederhole: Nichts. Nicht im Streaming, im Download-Kauf oder bei Plattenläden die auch Raritäten führen. Nirgends fand ich dieses Konzert. Und der Grund ist ein ganz einfacher: Es wurde noch niemals aufgenommen. Ich habe mich dann bei Stellen erkundigt die es wissen müssen. Es ist so. Da saß ich nun, mit meiner Begeisterung für ein herrliches Musikstück, das ich einmal hören durfte, nun aber nicht mehr im Zugriff hatte. Meh. Das gibt es doch heute gar nicht mehr.
Und dann wurde mir schlagartig klar dass es so ja immer war zu der Zeit in der eine Vielzahl klassischer Konzerte entstanden ist. Da konnten die Menschen die Musik bei einer seltenen Gelegenheit ein einziges Mal hören. Und dann wahrscheinlich nie wieder. Sie mussten das Konzert also anders mitnehmen als auf Tonträger. In ihrem Gedächtnis, in den Gefühlen die sie mit der Musik erlebt hatten. Mit diesem Moment begann ich mich zu erinnern was mir von dem Konzert noch geblieben war. Und erstaunlicher Weise war das  eine ganze Menge. Ich kann heute natürlich keine Passagen mehr vorsingen, aber an viele Klangfarben und Emotionskomplexe erinnere ich mich gut. Für mich, der in einer anderen Welt lebt ist das nun plötzlich etwas besonders wertvolles, weil es eine andere Qualität hat. Und damit meine ich nicht die Komposition, sondern eigentlich das Konzerterlebnis. Ist es normalerweise die Aufführung eines als Aufnahme jederzeit erhältlichen Werkes, so bedeutet es hier nun  die einzige Möglichkeit das betreffende Stück zu hören, ein einziges mal.

Und dann hatte ich noch eine weitere, ganz ähnliche Situation. Diesmal nicht Klassik von einem Orchester, sondern ein Mann mit akustischer Gitarre, der Lieder spielte. Wunderschöne, selbst komponierte Lieder. Und überraschender Weise gibt es auch diese noch nicht als Aufnahme. Während des Konzertes wurde mir plötzlich bewusst, dass ich also wieder in dieser Situation war. Und ich begann sofort die Musik so gut es ging in mir aufzuzeichnen. Wissend dass ich sie jetzt, in diesem Moment hören kann, und dann erstmal nicht wieder.
Das Rubtsov Konzert wird es irgendwann als Aufnahme geben. Das steht fest. Ich habe allerdings noch nicht entschieden was ich dann tun werde. Vielleicht bewahre ich mir nur meine Erinnerung. Oder ich sitze zaudernd davor wie das Kaninchen vor der Schlange.

Icon Autor lg
Stefan Pillhofer ist gelernter Toningenieur und hat viel Zeit seines Lebens in Tonstudios verbracht. Er hat viel Hörerfahrung mit klassischer und Neuer Musik gesammelt und liebt es genau hinzuhören. In den letzten Jahren hat sich die Neue und zeitgenössische Musik zu einem seiner Schwerpunkte entwickelt und er ist stets auf der Suche nach neuen Komponist*innen und Werken. Stefan betreibt das Online-Magazin Orchestergraben, in dem er in gemischten Themen über klassische Musik schreibt. Darüberhinaus ist er auch als Konzertrezensent für Bachtrack tätig.
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