Ein Gastbeitrag von Ekkehard Ochs
Der 30. Jahrgang des Usedomer Musikfestivals ist eröffnet! Wie üblich in Peenemünde, wo die riesige Kraftwerkshalle der einstigen Raketenschmiede der Nationalsozialisten nun seit langem als Ort der Verkündigung von Frieden und Menschlichkeit dient. Dies in Form großer und großartiger Konzerte, von denen die Eröffnungen des jeweiligen Usedomer Musikfestivals mit Besonderheiten herausragen. Und die haben Namen: Kristjan Järvi und das Baltic Sea Philharmonic, eine Gründung des Usedomer Musikfestivals von 2008, die junge Musiker*innen aus allen zehn Ostsee-Anrainerländern vereint und das unter Järvi zu einem Juwel grandioser Orchesterkunst herangebildet wurde. Dieser Edelstein, um im Bild zu bleiben, funkelt mittlerweile allerdings sehr anders als erwartet. Leiter Järvi, ein Este von höchsten musikantischem Rang, Dirigent, Produzent, Komponist und Arrangeur, pflegt seit längerem weitreichende Visionen bezüglich einer „revolutionierten“ Orchesterkultur. „Ich möchte neue Welten erschaffen. Das Publikum soll sich fühlen, als ob es plötzlich in eine neue Dimension eintritt, eine Welt, in der alles möglich ist.“
Zum Beispiel auch das Verschmelzen von Musik, Technik, Choreographie, visueller Kunst, Licht- und Sounddesign zu einem besonderen „Gesamtkunstwerk“ unter jeweils jährlich wechselnden Gesamttiteln. Dass traditionelle Programmplanungen hier nicht mehr passen, ist so klar wie die Notwendigkeit völlig neuer Konzepte. So wird Klassisches von Järvi selbst weitgehend bearbeitet, Neues einbezogen, Übergänge hinzukomponiert oder (vom Orchester) improvisiert und – wichtig – das Ganze unter einem Thema sowie ohne Pause und mit oft genug nicht immer klar erkennbaren Abgrenzungen zu einem einzigen Werk zusammengefasst (etwa u. a. „Waterworks“, „Baltik Folk“, „Nordic Swan“, „Nordic Pulse“). So auch am 16. September in Peenemünde, wo es nach den offiziellen Begrüßungsreden vom Veranstalter des Usedomer Musikfestival (Intendant Thomas Hummel), der Ministerin für Wissenschaft, Kultur, Bundes- und Europaangelegenheiten des Landes MV (Bettina Martin) sowie der Botschafterin der Republik Lettland (Alda Vanaga) thematisch um die „Mittsommernacht“ ging. Dunkle Bühne, Filmische Dauersequenzen toller Himmelsbilder, wabernder Bühnen-Nebel und ein musikalisch leise instrumental begleitetes Aufziehen des Orchesters kündigten das Erwartbare an: Mystik, sowohl in der Natur wie in der Musik.
Für die folgenden knapp 70 Minuten hatte Järvi ein ohne Pause durchlaufendes Programm zusammengestellt, das Werke von mehr als zehn Komponisten und Komponistinnen enthielt. Etwa Anleihen scheibchenweise von Sibelius (2. Sinfonie) und Strawinsky (Feuervogel), Arrangements von Pärt und Järvi . Neues von Letzterem und manches von diversen Mitgliedern des Orchesters, das inzwischen über ein eigenes „Creativity Lab“, ein „Komponierstudio“, verfügt. Unterscheidungen (Abgrenzungen) sind da im Konzertsaal nicht immer leicht, was aber für den Visionär Järvi wohl kein Problem darstellt. Im Gegenteil: Sein Ziel ist bei diesem und anderen Projekten weniger die authentische Wiedergabe eines Kunstwerks, als vielmehr die Präsentation neuer, „kreativ“ gemeinter Zusammenstellungen (auch des Bekannten) unter dem Blickwinkel ganz anderen Hörens und Aufnehmens. Es geht ihm hier wohl um eine andere Kunst – und damit auch Weltanschauung, um jenen Aspekt, den Järvi im eingangs zitierten Satz mit „neuer Dimension“ meint; offensichtlich die einer Pop-nahen Ausdruckswelt inbegriffen. Für alles dies spricht die dezidiert meditative, ja kultisch angelegte Musiksprache vieler Programmteile, ihr teils gebetsartiger, auch tröstender, vielfach aber auch tänzerisch angelegter Grundcharakter.
Eine deutlich mystische Note ist außerdem unverkennbar! Mit diesem Klangkörper kann man dahingehend vieles machen. Seine Klangpalette ist enorm, die Vielfalt dynamischer Fähigkeiten beeindruckend, der Gesamteindruck fesselnd. Järvi selbst sieht sich als Teil der „Inszenierung. Er dirigiert eigentlich nicht, er „beschwört“ das übrigens seit einigen Jahren total auswendig spielende und im Stehen (auch Wandeln) spielende Orchester mit suggestiver Körpersprache, präsentiert sich dem Publikum gestisch und ihm zugewandt wie ein Verkündigungsengel oder Hohepriester. Im Übrigen lässt er weniger musizieren, eher sein Tonmaterial zelebrieren. Und dies innerhalb eines großen Ausdrucksbereichs: zwischen hingehauchter, nahezu statisch wirkender Zartheit, tumultartigen Klangekstasen und bohrenden, donnernden, Kurz-Motive unaufhörlich und unerhört lautstark wiederholenden Klangflächen. Und: der rappelvolle Saal machte mit, klatschte, trampelte, pfiff, ließ sich zu rhythmischem Klatschen und sogar Singen animieren!
Es lohnt, Järvis Konzepte eines völlig neuen Musizier- und Aufführungsstils genauer zu hinterfragen. Bislang wird er dafür zumeist gelobt und „als einer der intelligentesten und innovativsten Programmgestalter in der Klassikszene“ (Reuters) bezeichnet. Dass er damit nicht nur schlechthin anregt, sondern auch handfest provoziert, ist aber ebenso klar – und in der Bewertung abhängig vom Standpunkt des Betrachters. Ist es musikästhetisch vertretbar oder ein Sakrileg, aus der Sinfonie eines Klassikers, etwa Sibelius, einige wenige thematische und motivische Bausteine herauszubrechen und in völlig neue Zusammenhängen zu stellen? Oder ist das – positiv gesehen – „kreativ“? Ergibt es Sinn (und welchen), Tschaikowskis Ballet „Der Nusssknacker“ – wie im vergangenen Jahr zu besichtigen – als große dramatische Sinfonie neu zu komponieren? Machbar ist sicher vieles! Und zu solche Fragen animiert zu werden ist sehr gut. Insofern verließ ich auch diesmal Peenemünde und das Usedomer Musikfestival mit anregenden, auch aufregenden Eindrücken und mancher offenen Frage.
Titelfoto @ Geert Maciejewski