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Einfach Klassik.

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Grandioses Festival-Finale in Peenemünde

Ein Gastbeitrag von Ekkehard Ochs

Der 30. Jahrgang des Usedomer Musikfestivals ist Geschichte. Nach drei Wochen täglichen Musikangebots von rund 200 vielfach aus Lettland stammenden Musiker*innen und vor rund 14 000 Besucher*innen schweigt nun Frau Musica. Aber sie hat Spuren hinterlassen. Nicht nur Zufriedenheit beim Veranstalter, der sich besonders über den erreichten Vor-Corona-Stand freuen darf und beim diesjährigen Generalthema LETTLAND erneut ein glückliches Händchen bewies, sondern auch beim Publikum, das sich die Möglichkeiten, vielfältige Erlebnisse zu genießen und durchaus weiterführende Erkenntnisse über ein musikalisch wenig bekanntes, aber traditionsreiches Land zu sammeln, in erfreulich hoher Anzahl nicht entgehen ließ. Es sei hier dem Reiz widerstanden, mehr über die überaus erfolgreiche Geschichte des Usedomer Musikfestival zu sagen. Nun zum diesjährigen Finale am 7. Oktober. Es fand – wie schon die Eröffnung – traditionsgemäß in der Halle des Kraftwerks Peenemünde vor erneut 1200 Besuchern statt und markierte damit gleichzeitig – und ebenfalls schon Tradition – den Ausklang der insgesamt acht große Musikfeste umfassenden Saison im Musikland Mecklenburg-Vorpommern.

Das Finale geriet dementsprechend repräsentativ: mit der NDR Elbphilharmonie, der Pianistin Anna Vinnitskaya und dem (kurzfristig eingesprungenen) Dirigenten Vasily Petrenko. Da konnte man nur sagen: Herz, was willst du mehr! Interpreten von höchstem Rang und ein Programm, das mit Jāzeps Vītols Sinfonischer Dichtung Līgo, dem 1. Klavierkonzert fis-Moll op. 1 von Sergej Rachmaninow und der 1. Sinfonie e-Moll op. 39 von Jean Sibelius ganz sicher den Wünschen eines breiten Publikums entgegenkam. Vereinten doch alle diese Werke höchst attraktive und national gebundene Tonsprachen mit höchster, ungemein expressiver Empathie sowie einem Musizierstil, der an Ausdrucksfreudigkeit, Mitteilungsdichte und oft genug virtuoser Spielfreude nichts zu wünschen übrig ließ. 

Anna Vinnitskaya, Foto © Geert Maciejewski
Anna Vinnitskaya, Foto © Geert Maciejewski

Bei Vītols Sinfonischer Dichtung (1899) überwog das Nationale, überwucherte aber weder die Ausdrucksfreude noch die Deutlichkeit einer Botschaft. Es ging um das traditionelle lettische „Johannisfest“ (Sommersonnenwende), um das Singen, Tanzen und Feiern. Entsprechend arbeitet der Komponist mit lettischen Volksweisen, und dies sehr kunstfertig und sinfonisch. Unverkennbar die Schule eines Rimski-Korssakow und Ljadow. Bemerkenswert die Souveränität einer in vielen Farben leuchtenden und viele Ausdrucksbereiche berührenden Partitur, die den Hörer mitnimmt auf eine wohlklingende, immer originelle, abwechsungsreiche Klangreise; vertieft um ein Wissen ihres nationalen Hintergrundes.

Das Programmheft spricht von einem „frühen Beispiel für den Aufbau der lettischen Nation durch Kunst: für die Erzeugung von Stolz und Heimatbindung durch Musik.“ Unnötig fast hinzuzufügen, dass das NDR Elbphilharmonieorchester bereits hier alle Qualitäten einer auch subtilste Ausdrucksbereiche klanglich faszinierend auszuleuchten verstand. Und wie dann erst, als es um den explosiven Rausch eines 18-jährigen Rachmaninow ging. Das Werk ist vergleichsweise selten zu hören. Wichtig also, dass es da neben dem Spitzenorchester eine Anna Vinnitskaya gab, für die dieser schon „richtige“ Rachmaninow mit allen seinen Klangfinessen, dem unwiderstehlichen Schmelz seiner schon suggestives Potenzial verströmenden Melodik sowie der Beben machenden Wucht irrer Klangkaskaden und halsbrecherischer Technik tägliches Brot zu sein schien. Denn wie diese Pianistin, der auch die schwierigsten Passagen noch ein entspanntes Lächeln auf die Lippen zauberte, das Werk meisterte, grenzte schon ans Wunderbare. Natürlich nicht nur technisch, denn Rachmaninow hat (ein Fluch des vorrangig Technischen) an Ausdrucksvielfalt, -intensität und -tiefe weit mehr zu bieten, als ihm oft zugebilligt wird. Eine musikalisch überaus ergiebige Erlebnisreise also, mit viel Auf und Ab, melancholisch-zart, erregt dramatisch, hin-und hergeschüttelt im beständigen Wechsel kontrastierender Gefühle. Eine grandiose Vorstellung, für die das Orchester und die hinreißende Pianistin mit Beifall überschüttet wurden. Ihre Zugabe: eine überaus unterhaltsame Klaviergroteske, wie sie in dieser intellektuellen, sich dennoch ungeheuer lustvoll gebenden und kompositorisch abgründig-brillanten Form wohl nur ein Jörg Widmann schreiben konnte!

Bleibt Sibelius und mit seiner 1. Sinfonie (1899) eine Klangwelt von ganz individueller Machart. Auch wenn die nach der 2. Sinfonie deutlich gemiedene Orientierung an der europäischen Tradition des viersätzigen Zyklus und seiner Verarbeitungsmethoden hier noch sehr deutlich ist. Sibelius erarbeitet sich ein neues Wirkungsfeld. Und er schwankt mit allerhand Selbstzweifeln von Anfang an, ob er ihm und den notwendigen Anforderungen genügen kann. Programmmusiker will er nicht sein, Nationalkomponist mit Hang zur originalen Folklore auch nicht. Nur eines weiß er sicher: „Es sind ja meine Sinfonien Glaubensbekenntnisse mehr als meine übrigen Werke.“ 

Vasily Petrenko, Foto © Geert Maciejewski
Vasily Petrenko, Foto © Geert Maciejewski

Für Vasily Petrenko und sein Orchester schien das geltende Verpflichtung. Als ob man gewusst hat, dass Sibelius gern auf „das Skulpturelle“ seiner Musik verwies, auf „dieses Aushämmern der ethischen Linie“, geschuldet dem Endzweck, dass seine Musik „immer rein musikalisch“ gedacht und zu sehen ist. Was hier in einer großartigen Wiedergabe sehr eindrucksvoll bewiesen werden konnte! Dies etwa mit unglaublicher, auch kolossale Kontraste besitzender Spannung, dunklem klanglichen Glühen, fast dämonisch wirkendem Melos und schon mal das Tumultuarische berührender Dramatik. Eine ungeheure innere Lebendigkeit belebte alle Sätze, ein nie nachlassendes Pulsieren und ein viel Disparates einbeziehender Ausdruckswille. Er wirkte jenseits jeden illustrativen Ansatzes wie eine erregende, rhetorisch durchaus neue Vokabeln nutzende und mit vielen widersprüchlichen Argumenten gespickte Rede. Einfach faszinierend! Da sitzt man dann nach einer grandiosen Aufführung in Peenemünde im Saal, ganz klein, beeindruckt, ja erschüttert und denkt an jenen Sibelius, der da wenige Jahre nach Aufführungen dieser (und weiterer)  Sinfonie(n) gesagt hat, er glaube, dass seine Musik von geringer Bedeutung für die Kunst dieser Welt sei…  

Titelfoto © Geert Maciejewski

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