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Einfach Klassik.

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Interview mit dem Dirigenten, Opernsänger und Piloten Marc-Olivier Oetterli

„Ich wollte dahin, weil es dort die Aussicht auf eine Flugreise gab…“

Mit der Formel, seine Träume zu leben und nicht das Leben zu träumen, macht der Opernsänger, Dirigent und Fluglehrer Marc-Olivier Oetterli Ernst. Wo andere zwischen Hauptberuf und Hobby differenzieren, sind bei ihm, der in Genf geboren wurde und heute in Worms lebt, große Leidenschaften zu drei Berufen zusammengeflossen. Neugier führt immer wieder neu der Komfortzone heraus. In Mozarts Zauberflöte mit dem Kurpfälzischen Kammerorchester Mannheim favorisiert er die Personalunion zwischen Sänger und Dirigent. Eine neue Erfahrung ist die gerade fertig gestellte Aufnahme zur CD „Caprices Hébraiques“, welche im Laufe dieses Jahres erscheinen wird mit teils noch recht unbekanntem Repertoire von jüdischen Komponisten und der Geigerin Anne Battegay als Solistin. Am Ende von drei Aufnahmetagen in Mannheims Epiphaniaskirche kam es zum ausgiebigen Gespräch…

Marc-Olivier Oetterli, Foto © Kaupo Kikkas
Marc-Olivier Oetterli, Foto © Kaupo Kikkas

Marc-Olivier Oetterli, Sie haben zum ersten Mal eine Aufnahme gemacht. Der Prozess ist ja komplett anders als bei einem Konzert, wenn hier viele Details in ihre Bestandteile zerlegt werden. War das eine neue Erfahrung?

Die letzten Tage waren sehr interessant. Man trifft sich und lässt sich auf etwas völlig anderes ein. Es ist eben kein vertrautes Repertoire wie Mozarts g-Moll Sinfonie. Also ist alles neu. Und das wirkt auf die Interaktion mit dem Orchester extrem inspirierend. Es ging um Musik, die vorher kaum einer kennt. Aber alle Beteiligten haben mit großem Interesse und sehr viel Motivation alles aufgenommen. Es war zu Anfang durchaus ein harter Prozess, weil wir bei manchen Stücken erst mal die Transparenz finden mussten. Aber insgesamt ging alles sehr schnell. Wir haben nach der Leseprobe sofort die Aufnahmesession gestartet und Abschnitt für Abschnitt aufgenommen. Das hat mich immens weitergebracht und gab mir letztlich auch eine Anleitung, um künftig noch effizienter zu proben. Jetzt gerade, nach den finalen Aufnahmen haben wir alles noch einmal im ganzen durchgespielt. Es kommt mir jetzt so vor wie nach einer verdammt gut gelaufenen Probe. Großartig war auch die Unterstützung von Manfred und Annette Schumacher vom ARS-Label. Da waren vier weitere Ohren ganz nah an der Sache dran.

Wer hat dieses Projekt überhaupt angestoßen?

Am Anfang stand der Wunsch der Geigerin Anne Battegay, diese Werke bekannter zu machen, damit diese Musik in Konzertprogrammen Einzug hält. Anne Battegay und ich haben uns schon sehr früh getroffen. Ich habe ihr dann beim Spiel sehr intensiv zugehört. Wie sie phrasiert und wo sie hingeht. Wie Sie den Klang sucht. Wie sie auf dem Instrument singt.
Was reizt Sie an der Entdeckung von neuem Repertoire?
Neues Repertoire erzeugt oft eine verblüffende Wirkung. Üblicherweise zieht es das Publikum wegen bekannten Stücken ins Konzert – etwa, wenn Ravels Bolero auf dem Programm steht. Aber wenn die Leute erst mal im Konzertsaal sitzen, erlebe ich häufig, dass sie mindestens genauso hingerissen sind von den Stücken, die sie vorher nicht kannten.

Sie haben sich für den Beruf des Dirigenten entschieden, da Ihnen das Gestalterische besonders wichtig ist….

Ich komme ursprünglich vom Gesang her, da geht es ja auch um das Rhetorische. Ja – und ich suche in der Musik auch immer so etwas wie die Sprache.

Was macht sprechendes Musizieren aus?

Besonders spannend finde ich, dass jede Sprache ihren eigenen Duktus hat. Ob auf russisch, tschechisch oder italienisch – es geht jedes Mal in neue Gefilde. Der Sprachrhythmus ist immer ein zentrales Element. In dieser Hinsicht finde ich Maurice Ravels „Kaddish“ besonders spannend: Kern des Stückes ist ein Gebetstext, der nur deklamiert wird. Maurice Ravel näherte sich aus einer anderen Richtung an, in dem er daraus ein Lied entwickelt und in dem er den Sprachrhythmus aus komponiert hat. In der aktuellen Version übernimmt die Solovioline den sprechenden Part. Und damit wird das Gebet praktisch gesungen. Der Rhythmus kommt immer vom Text.

Ich stehe gerade unter dem starken Eindruck Ihrer „Zauberflöten“-Interpretation, ebenso beeindruckt mich Mozarts g-Moll-Sinfonie unter Ihrem Dirigat. Welche Rolle spielt Mozarts Musik in Ihrem Leben und Schaffen?

Die ersten Mozart-Stücke, die ich kannte, waren Opern. Vor allem „Die Zauberflöte“ und „Don Giovanni“. Ich höre hier in jeder Phase und jedem Motiv eine starke Text-Rhetorik. Kurzum, diese Musik spricht. Und dieses Ideal versuche ich umzusetzen.

Sie sind Opernsänger, Orchester-Dirigent gleichzeitig Pilot und Fluglehrer und haben alle wichtigen Lizenzen. Wo andere alles mögliche anfangen, aber dann nicht richtig machen, agieren Sie überall mit Konsequenz. Würden Sie sich als Perfektionisten bezeichnen? Wie hat sich alles entwickelt?

Das ist eine gute Frage. Als Kind kam ich mit Fliegerei und Musik in Kontakt. Um mich herum waren immer Flugzeuge und ich wollte immer fliegen. Ich bin in der französischen Schweiz in Genf direkt neben dem internationalen Flughafen aufgewachsen. Das war noch in den 1970er Jahren, als die Jets noch so dröhnten, dass die ganzen Wände zitterten. Ich fand das toll und wollte selbst auch immer fliegen. Die Musik kam später an mich heran. In der Schule gab es einen Knabenchor. Auf einmal war die Rede davon, dass dieser Chor auf Tournee geht und dass dafür sogar eine Flugreise ins Ausland unternommen wird. Da war für mich klar: Da will ich hin! Ich wollte dahin, weil es Aussicht auf eine Reise gab. Zwar erfolge die erste Reise nach Dänemark dann erst mal mit einem Nachtzug, aber das war auch schon aufregend genug und an einer Flugreise in meiner Wahrnehmung schon sehr nah dran.

Wie hat die Musik Sie dann gefunden?

Eine der ersten Prägungen war das Weihnachtsoratorium von Bach. Ich habe monatelang nur die Sopranstimme gelernt. Ich wusste ja noch gar nichts von den ganzen Zusammenhängen mit Harmonien und Orchester. Eigentlich wusste ich bis dahin noch gar nicht, was ein Orchester ist. Die erste Probe war dann wie eine Erleuchtung. Wir sind dann umgezogen von Genf nach Solothurn. Da war ich dann bei den Singknaben der Sankt Ursen-Kathedrale. Das Mitmachen in diesem Chor hat eine gute Grundlage gelegt. Ich stieß da auf einen Kollegen namens Andreas Reize, der ist heute Thomaskantor. Spätestens hier war klar, ich möchte nur noch singen. Ich wollte auf die Bühne kommen und mich verkleiden. Und dann begann meine Faszination für den geheimnisvollsten musikalischen Beruf, des Dirigenten. Geheimnisvoll insofern, als er ja nichts Hörbares von sich gibt.

Was hat Sie im besonderen fasziniert?

Die Psychologie hinter der Rolle des Dirigenten faszinierte mich und ließ mich nicht mehr los. Als ich später Opernsänger wurde, habe ich zahllose Dirigenten erlebt in Hunderten von Vorstellungen und Proben. Man muss sich immer neu auf jede Gegebenheit einstellen und das ist ja auch das Spannende dabei. Im Studium habe ich dann oft die ganzen theoretischen Übungen und musikgeschichtlichen Vorlesungen links liegen gelassen und saß stattdessen in der Sinfonieorchester-Probe. Ich habe dann selbst eine Ausbildung begonnen und erst mal Chöre geleitet z.b. die Luzerner Singknaben und Konzertchöre – und so kam ich rein ins Oratorien-Fach. Zugleich entwickelte ich mich als Sänger immer weiter und kam dadurch weniger zum Dirigieren. Aber meine Prägung als Dirigent war schon so weit fortgeschritten, dass ich auch als Sänger immer aus der Perspektive des Dirigenten mitgedacht habe.

Heute haben Sie ja eine Personalunion aus Sänger und Dirigent perfektioniert, wofür ja zum Beispiel eine Zauberflöten-Inszenierung steht.

Genau, beim kurpfälzischen Kammerorchester bin ich mitten im Orchester drin und singe die Partie und dirigiere zugleich das Orchester. So etwas möchte ich gerne noch weiter betreiben.

Worauf kommt es Ihnen dabei an?

Eben nicht darauf, dass ich während des Singens noch ausgiebig gestikuliere. Stattdessen bekommen das Wort und die Sprache mehr Gewicht, wenn es um die Führung des Orchesters geht. Das Orchester nimmt den Text auf. Wenn vorher alles gut koordiniert wurde, ist es so, als würde nur noch die Play-Taste gedrückt und alles läuft.

Zurück zum Thema Fliegen. Das ist ja viel mehr als nur ein Hobby, wofür alleine schon Ihre qualifizierten Fluglizenzen stehen.

Als Kind wollte ich fliegen. Aber um diesen Traum zu leben, braucht es Geld und Zeit. Und zwar beides gleichzeitig… und das hat man als Künstler nicht. Entweder man hat Zeit, aber kein Geld. Oder eben Geld und dadurch keine Zeit mehr. Folgende Lösung ergab sich: Ich hatte gerade einen Monat Pause zwischen zwei Engagements am Grand Théatre in Genf. In diesem Monat habe ich dann in Texas meine Privatpilotenlizenz gemacht und von da ab in jedem Jahr eine weitere Lizenz erworben. Im Jahr 2013 kam der Umschwung durch den Erwerb der Fluglehrer-Lizenz: Von dem Moment an konnte ich meine Passion betreiben und wurde auch noch bezahlt dadurch.

Was macht das Dasein als Fluglehrer aus?

Ab jetzt war ich in der Rolle, das Fliegen anderen Menschen beizubringen. Das braucht sehr viel Einfühlungsvermögen, Beobachtungsgabe und Vorausdenken – was wieder sehr viel Paralleles zum Dirigieren hat. Heute lebe ich einen wundervollen Gleichklang aus Fliegen, Dirigieren und der Opernbühne.

Marc-Olivier Oetterli, Foto © Kaupo Kikkas
Marc-Olivier Oetterli, Foto © Kaupo Kikkas

Wir leben in beunruhigenden extremen Zeit-Umständen. Was macht Musik in diesen Tagen mit Ihnen und was wollen Sie weitergeben?

Musik hat etwas Heilendes, was uns alle verbindet und entführt. Wenn etwas gut gemacht ist, vergesse ich alles andere drumherum. Ich hatte jetzt keine Sekunde irgendeinen anderen Gedanken als an das, was wir hier gemacht haben. Dieses Aufnahme-Projekt ging über den sonstigen Alltag auf der Opernbühne hinaus.

Was war anders?

Ich würde es mal Prioritäten und Entscheidungen nennen. Es geht um zeitliche, aber auch um menschliche Ressourcen. Um Kondition und Motivation, aber auch um die Frage, wie bleibt man dran und wo bin ich vielleicht zu weit gegangen? Vieles im Orchester ist vergleichbar mit der Arbeit mit einem Flugschüler. Die Balance zu finden, ist immer eine große Herausforderung, denn es geht um Menschen mit eigenen Bedürfnissen und Anliegen.

Ich sehe bei Ihnen eine große Fähigkeit, Vielfalt im Leben zu einem großen Ganzen zu zentrieren. Ist die Einstudierung einer unbekannten Musik und der Erwerb einer neuen Fluglizenz für Sie ein vergleichbarer Prozess?

Es geht immer um die Erforschung des Unbekannten. Ich bin einfach sehr neugierig. Deswegen entdecke ich in gleichen Situationenimmer neue Aspekte. Einer meiner Flugschüler hat kürzlich diese Philosophie auf den Punkt gebracht: Es gibt kein Wachstum in der Komfortzone. Das ist als Sänger ja auch so: Zu Beginn des Auftritts sind meine Hände vielleicht feucht und die Kehle wird trocken. Das ist dann ein Zeichen dafür, dass ich gleich aus der Zone heraus gehe und dass ich etwas Außergewöhnliches mache. Ich versuche also, Lampenfieber und Panik in ein gutes Zeichen umzudeuten. An so etwas arbeite ich mein ganzes Leben. Und ich muss sagen, es wird nicht einfacher.

Was wird nicht einfacher?

Man sammelt viele Erfahrungen, aber auch darin, was alles schiefgehen kann. Und das ist nicht immer beruhigend.

Die Unbekümmertheit der Jugend ist ja auch eine wichtige Ressource, um im Jetzt zu leben.

Ja, und dem steht die Gelassenheit im Alter gegenüber. Aber es gibt auch immer mehr Optionen und man wird immer wählerischer.

Marc-Olivier Oetterli, vielen Dank für dieses Gespräch!

Titelfoto © Kaupo Kikkas

Icon Autor lg
Musik und Schreiben sind immer schon ein Teil von mir gewesen. Cellospiel und eine gewisse Erfahrung in Jugendorchestern prägten – unter vielem anderen – meine Sozialisation. Auf die Dauer hat sich das Musik-Erleben quer durch alle Genres verselbständigt. Neugier treibt mich an – und der weite Horizont ist mir viel lieber als die engmaschige Spezialisierung, deswegen bin ich dem freien Journalismus verfallen. Mein Interessenspektrum: Interessante Menschen und ihre Geschichten „hinter“ der Musik. Kulturschaffende, die sich etwas trauen. Künstlerische Projekte, die über Tellerränder blicken. Labels, die sich für Repertoire-Neuentdeckungen stark machen. Mein Arbeitsideal: Dies alles fürs Publikum entdeckbar zu machen.
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