Das Baltic Sea Philharmonic feierte in der Berliner Philharmonie die Mittsommernacht – und zwar so, dass viel kulturelle Utopie in der Luft lag. Oder ist es nicht längst kulturelle Gegenwart, der man sich nur noch öffnen muss? Kristjan Järvi und sein komplett auswendig musizierendes Baltic Sea Philharmonic demonstrierten mit ihrem Programm „Midnight Sun“, wie so etwas geht. Das Orchester als Band. Oder als soziale Skulptur? Dass bei solchen Grenzöffnungen auch jeder musikalische Anspruch eingelöst wird zeigt, dass sich hinter aller Freiheit auch immer Disziplin verbirgt. Kunst kommt in der farbigen Welt des Baltic Sea von Können.
Es ist bunt auf der Bühne. Der schwarzweiß-Dresscode ist passé und der leuchtkräftige Farbmix setzt sich in der Lightshow fort. Im Stehen musizieren und noch nicht mals durch einen Notenständer domestiziert sein, sorgt für mehr Bewegung – und verblüffenderweise auch für einen hörbar luftigeren Orchesterklang, vermtlich, weil die Sinne der Spielenden stärker aufs gegenseitige Zuhören abonniert sind.
In the mix mit dem Baltic Sea Philharmonic
Zunächst umsäuselt ein süßlicher Elfenreigen die Zuhörerschaft, als dann rhythmisch Fahrt aufgenommen wird, wobei auch der „Bandleader“ Kristjan Järvi auf einer Rahmentrommel mitmischt, die er die meiste Zeit während seines Dirigates in der Hand oder unterm Arm behält. Das cineastische Intro, von Järvi selbst komponiert, führt nahtlos in ein musikalisches Bekenntnis hinein: Jean Sibelius „Swan of Tuonela“ definiert die Seele der baltischen Musikkultur und scheint auch dieser illustren, jungen, großen Combo ans Herz gewachsen. Puristen mögen durch so ein Collagenverfahren abgeschreckt sein. In Zeiten von Playlists haben sich aber Hörgewohnheiten geändert. Oder andersrum: In Berlin, einer der Weltmetropolen der elektronischen Clubkultur darf sich ein sinfonisches Konzert auch ruhig mal an der Dramaturgie eines guten DJ-Sets orientieren. Weitere Sibelius-Partikel sollen später aufblitzen, ebenso überraschend kommen mehrfach einzelne Parts aus Strawinski Feuervogel ins Spiel, dem vor allem Streicher und Blechbläser viel impressionistische Duftigkeit abtrotzen. Unvermittelt, aber plausibel bewirkt Arvo Pärts choralhaftes „Da Pacem“ einen radikalen Farbwechsel.
Nichts muss, alles kann
Es passiert noch mehr: Die Mitglieder des Baltic Sea bereichern den rauschhaften Mix durch Hommagen an ihre eigenen kulturellen Wurzeln. Mit faszinierend „neuen“ instrumentalen Farben, etwa einer solistisch agierenden Maultrommel und vor allem ausgiebige Soli auf der estnische Bagpipe, auf welche sich Mari Meentalo spezialisiert hat. Frische Eigenkompositionen seitens einzelner Orchestermitglieder eröffnen hier ganz neue Welten, nicht selten mit programmatischem Hintergrund. In märchenhaften Klängen charakterisiert „Sireen“ aus der Feder von Maria Mutso die Figur der Meerjungfrau. „Hollow in the Tree“ von Mintautas Kriscziunas und Zusanna Wasiewicz appelliert an den Glauben an eigene Potenziale. Das mitreißende „Dream of Tabu-Tau“ von Liis Jürgens, der Harfenistin des Orchesters, soll Statement für Meinungsfreiheit sein.
Nochmal trumpft Sibelius mächtig auf. Dann verdichten pulsierende Basstrommeln einen Trance-Rhythmus, über dem sich schamanenhafter Gesang ausbreitet – in diesem Fall in der in Estland traditionellen Runic- und Kalevala-Stilistik. Järvi ist derweil wie ein umtriebiger Zeremonienmeister nicht nur überall auf der Bühne unterwegs, sondern bestürmt auch noch sein Publikum, damit es aktiv teilhabe. Schließlich bricht das ganze Orchester seine eigene kleine „Singing Revolution“ vom Zaun und lässt auch damit den Funken zum Publikum über springen. Am Ende umarmen sich alle innig auf der Bühne, was noch mehr aussagt als das sonst übliche devote Verbeugen. Die Zukunft ist offen, der Beat geht weiter. In diesem Sinne übernimmt schließlich ein DJ mitten auf der sinfonischen Bühne das Regiment.
Schon bald folgen neue Projekte: Kristjan Järvi, der bekanntlich die Filmmusiken zu Tom Tyrers Kultserie „Babylon Berlin“ komponierte, greift dieses Thema für seine nächste Produktion mit dem Baltic Sea Philharmonic auf. Premiere ist am 11. September im Berliner „Theater des Westens“ unter Beteiligung von Meret Becker, Max Raabe, Natalia Mateo, Madama Le Pustra, Eckart Runge und Jaques Ammon.
Am 21. Oktober kommt es bei der Biennale in Venedig zu einer Kooperation des Baltic Sea Philharmonic mit dem britischen Musiker, Komponisten und Plattenproduzenten Brian Eno. 36 Musiker des Orchesters werden Brian Enos neues Werk „Ships“ im Teatro La Fenice der Öffentlichkeit präsentieren.
Titelfoto © Peter Adamik