Ein Gastbeitrag von Ekkehard Ochs
Mit 24 Konzerten im „Festspielfrühling Rügen“ (8. 3. bis 17. 3. )hatten die Festspiele Mecklenburg-Vorpommern das Jahr 2024 bereits überaus erfolgreich begonnen. Schaut man an das Ende, dann stehen im „Festspielwinter“ (4. 12. bis 15. 12.) 11 Konzerte zu Buche. Der dazwischen liegende „Festspielsommer“ bietet nun zwischen dem 14. Juni und dem 15. September 127 Konzerte! Der Blick auf die Programme verheißt dabei nichts weniger denn eine wieder beeindruckende Fülle an hochkarätigen Künstlern aus aller Welt, alle nur denkbaren Besetzungen und musikalische Genüsse vom Allerfeinsten. Die ersten Tage dieser Sommersaison haben das bereits nachdrücklich unterstrichen. Zu diesen herausragenden Momenten zählt dabei unbedingt das Konzert des Leipziger Thomanerchor, das am vergangenen Mittwoch in der Stadtkirche St. Maria und St. Nikolaus zu Sternberg Besuchermassen geradezu magnetisch anzog. Was kaum verwundern dürfte, gehört doch dieser Knabenchor – neben den „Kruzianern“ aus Dresden – zu DEN weltweit geschätzten chorischen Exportartikeln Deutschlands. Seine Geschichte beginnt bereits im Jahre1212 und ist wesentlich geprägt von jenen Musikerpersönlichkeiten, die ihn geleitet haben; ihre Namen – und das betrifft nicht nur Johann Sebastian Bach (1723-1750) – repräsentieren wichtige Phasen musikgeschichtlicher, vor allem auch kirchenmusikalischer Entwicklung. Und einen hohen Standard chorischen, auch vokalsinfonischen Musizierens ohnehin. Der gegenwärtige, nach Bach nunmehr 18. Thomaskantor ist Andreas Reize, ein Schweizer mit bemerkenswerter kichenmusikalischer Biographie, der 2021 in sein berühmtes und verpflichtendes Leipziger Amt eingeführt wurde.
Wenn sich ein Programm als Visitenkarte präsentiert, dann war das Sternberger Konzert eine mit Golddruck und der Verheißung einer klanglich attraktiven Wanderung durch chorische Musikgeschichte. Jan Pieterszoon Sweelinck, Samuel Scheidt, William Byrd und natürlich Johann Sebastian Bach als Vertreter großartiger Madrigal- und Motettenkunst des 16. bis 18. Jahrhunderts, Bruckner und Mendelssohn Bartholdy für die Romantik, Igor Strawinsky, Ernst Pepping, Ivo Antognini, Ko Matsushita und John Rutter für die bis in die Gegenwart reichende klassische Moderne – dies der Radius, in dem sich die Thomaner bewegten. Und der neben dem möglichen Erkenntnisgewinn hinsichtlich musikalischer Stile und Ausdrucksformen größtes Hörvergnügen garantierte.
Das betrifft sowohl den ungemein sicheren, geradezu professionell Umgang des Chores mit dem „Arbeitsmaterial“ Stimme, der Fähigkeit zur stringenten Gestaltung musikalischer Abläufe als auch die Spezifik eines Chorklangs, der auf den physiologischen Voraussetzungen von Zehn- bis Achtzehnjährigen basiert. Das ist schon deshalb spannend, weil sich da – man vergleiche etwa mit den „Windsbachern“ oder den „Kruzianern“ – höchst attraktive Andersartigkeiten manifestieren. In Sternberg nun also die der Thomaner. Der Hörer hatte, der begeisterte Beifall zeigte es, ausreichend Gelegenheit, sich an einem Klangbild zu erfreuen, das mit Verve, musikantischem Schwung sowie tadelloser Intonation für sich einnahm und im Vollklang aller gut 60 Stimmen vor allem auch mit klangmassiver Großartigkeit punkten konnte. Dies der vorherrschende (akustische) Eindruck des Abends: eine Klanggebung, die den Reiz, ja die Faszination stimmlicher, bewusst eingesetzter und schon mal statisch wirkender „Flächigkeit“ kultiviert, ohne nicht gleichzeitig zu verdeutlihen, dass man natürlich auch über alle Fähigkeiten dezidiert klangsensibler, sehr verinnerlichter Gestaltung verfügt. Ersteres passte bestens zu den Motetten eines Sweeelinck und Scheidt, vor allem dort, wo es galt, solistisch wie im tutti in „Registern“ zu musizieren. Bei Bach ( Kyrie „Christe, du Lamm Gottes“, BWV 233a und Motette „Komm, Jesu, komm“ BWV 229) erschien das aufgelockerter, bewusst klangflexibler, im Polyphonen wunderschön transparent. Die Ergänzung: fröhlicher Madrigalton beim englischen Altmeister Byrd („Sing joyfully unto God“). Alles vereint dann höchst wirkungsvoll bei Mendelssohn (Motette „Denn er hat seinen Engeln befohlen“). Bei Bruckner („Christus factus est“) dann die so attraktive Verbindung einer gewissen klanglichen Schärfe (hohe Stimmen, aber auch im Vollklang) mit der dynamisch variablen Gestaltung des Einzeltons. Eine wahrlich fesselnde Kombination, die dann mit den zeitgenössichen Beiträgen um die expressiven Möglichkeiten kontrastgeschärfter Interpretation im Formalen, Metrisch-Rhythmischen und Harmonischen bedeutend erweitert und bereichert werden konnten.
Etwa mit der Motette „Jesus und Nikodemus“ von Ernst Pepping (1901-1981). Eher selten zu hören, ist dieses Stück ein Musterbeispiel für die individuelle Verbindung von historischen kirchenmusikalischen Traditionen (Polyphonie) mit neuen Ausdrucksmitteln. Ein hörenswerter Beitrag, der sich deutlich an prägnanter sowie den Text ziemlich genau berücksichtigender Darstellung orientierte. Zeitgenössische Kirchenmusik vom Besten! Im Übrigen sängerisch wie gestalterisch höchst anspruchsvoll. Dagegen wirkte Strawinskys (1882-1971) schlichter Satz eines „Pater noster“ geradezu harmlos, bleibt aber für den „Kirchenmusiker“ Strawinsky dennoch wichtiger Beleg. Richtig neue, wenngleich keine orthodox neue Musik bot man mit Ivo Antogninis (*1963) „Gloria in Exelsis“, einer sehr kontrastierende Ausdrucksbereiche berührende, klangrepräsentative Musik von teils hoher energischer Wucht und Erregtheit. Ähnliches galt, wenngleich in anderer „Sprache“ und etwas unorthodoxer, für Ko Matsushitas (*1962) „O lux bata Trinitas“; fast schon „schmissig“, sicher aber sehr effektvoll. Das Ganze kulminierte in John Rutters (*1945) „Cantate Domino“, einem wahrhaft kolossalen, klanglich grandiosen Lobgesang. Gemäßigt modern, raffiniert Tonales und Freitonales mischend, war dieses Werk so recht geeignet, einem ohnehin auf chorische Expressivität, klangliche Intensität, gestalterische Überzeugungskraft und stimmliche Repräsentanz setzenden Programm d e n Höhe- und Glanzpunkt zu verleihen.
Dabei sei nicht vergessen, dass Thomasorganist Johannes Lang ebenfalls mit von der Partie war und sich mit Max Regers „Ostern“ (aus Sieben Stücke für Orgel solo op. 145) sowie Bachs Präludium und Fuge a-Moll BWV 543 dem Publikum solistisch präsentierte und Sascha Werdau (Violoncello) und Thomas Kolarczyk (Kontrabass) den auch die Orgel einschließenden Continuo-Part bei den Alten Meistern übernahmen. Bleibt der „Chef“. Andreas Reize – und das verwundert bei dieser Biographie nicht – hatte alles fest im Griff. Aber eben als ein Souverän, der durch Probenarbeit absolut Gesichertes so bestimmt wie locker, geradezu an langer Leine laufen lassen konnte; jederzeit Herr des Geschehens und in der Gewissheit, dass hier nichts anbrennen konnte. Das merkt dann auch ganz schnell das Publikum, das sich ebenso entspannt wie enthusiastisch dafür bedankte.
Titelfoto © Oliver Borchert