Ein Gastbeitrag von Ekkehard Ochs
Wo man auch hinschaut – roter Backstein, verbaut in prächtigen gotischen Bürgerhäusern, drei monumentalen Kirchen und einem Rathaus, dessen ebenfalls gotische Schaufassade unbestritten eines der prägnantesten architektonischen Aushängeschilder der seit 2002 mit dem Titel „Weltkulturerbe“ ausgezeichneten Stadt Stralsund ist. Die alte Hansestadt ist aber auch „Orgelstadt“ mit gewichtigen Instrumenten in St. Marien (Stellwagen, 1659), St. Nikolai (Buchholz, 1841) und St. Jacobi (Wegscheider, 2020) und entsprechend hohem Standard an Kirchenmusik. Es gibt zudem mit einer der drei Spielstätten des Theaters Vorpommern und der Vorpommerschen Philharmonie auch ein alle Sparten anbietendes Großes Haus, ein „Enthusiastenorchester“, das Laien und Profis vereint und schließlich jene neogotische Kirche im Gelände des Klinikums West, das seit nunmehr 27 Jahren – und damit für Vorpommern singulär – eine Kammermusikreihe vom wirklich Allerfeinsten anbietet. Ein rühriger Verein, eine „Managerin“ namens Friederike Fechner – übrigens Cellistin mit Hochschulabschluss – beste Beziehungen bis zum Deutschen Musikrat und seinen Wettbewerben sowie Sponsoren machten und machen es möglich: eine jährliche Konzertreihe mit so anspruchsvollen wie in der Angebotsbreite bemerkenswert variablen Veranstaltungen.
Die in dieser Saison bereits dritte und vor wenigen Tagen begeistert gefeierte Veranstaltung: ein Abend mit dem Minguet Quartett. Es wäre die sprichwörtliche Sache mit den Eulen und Athen, wollte man lobende Worte über dieses inn Köln beheimatete internatioale Spitzenensemble bemühen. In Stralsund sprach es in der Besetzung Ulrich Isfort, Annette Reisiger, Aida-Carmen Soanea und Matthias Diener ganz für sich selbst! Dies mit Haydns Opus 76, dem berühmten „Kaiserquartett“, einer Quartettbearbeitung (Annegte Reisinger) von Mahlers Lied „Ich bin der Welt abhanden gekommen“ und Schuberts d-Moll-Quartett o. O. „Der Tod und das Mädchen“ (D 810).
Fast ein wenig überraschend der Einstieg mit Haydn. Man kann ihn – wenn er denn in Programmen überhaupt berücksichtigt wird – sehr unterschiedlich erleben. Hier ließ, zunächst im 1. Satz, ein recht direkter, kraftvoller Zugriff aufhorchen. Der verharmlosende „Papa Haydn“ schien weit weg, ersetzt von schwungvoller Direktheit, gepaart mit prägnanter Artikulation und breiter dynamischer Palette. Der Vorzug: Haydns individuelles Können kam unverstellt und voll zur Geltung, die Interpretation des Minguet Quartett besaß die Wirkung ausgeprägt mitgeteilter Meisterschaft und hinreißender musikantischer Stringenz. Unterbrochen von traumhaft schönen, in seiner strukturellen Dichte sehr beeindruckend vorgetragenen Variationen über die berühmte österreichische Hymne fand dieses gestalterische Konzept seine Fortsetzung im Menuetto: geradezu softig vorgetragen, von breitem, nur im Trio luftig-charmanten Strich bestimmt und von durchaus etwas massivem Charakter. Der aber verschwand schnell im Finale zugunsten eines spritzig-forschen, frischen, ja virtuosen Musizierens, bei dem wie schon im 1. Satz, erneut die meisterliche Dichte der Satzstuktur und die Faszination ihrer musikalischen Umsetzung bestechen konnten.
Ein Haydn so richtig zum Anfassen. Und Plädoyer für einen Quartettmeister, zu dem – wie in der Sinfonik – die unausrottbare Rolle des zwar verdienstvollen, aber eben doch „Vorläufers“, so gar nicht passt!
Dann kurzes Zwischenspiel: ein Mahler, der in dieser Form keiner ist, aber einen begeisterten Quartettspieler schon mal als Bearbeitungsgrundlage zu reizen vermag. Verhaltener Weltschmerz vierstimmig, tonintensiv, nicht ohne klanglich attraktive Hintergründigkeit; auch das geht und lässt sich entspannt anhören.
Letzteres geht bei Schubert aber nicht. Hier packte das Minguet Quartett die ganz große Kiste dramatisch-expressiver Gestaltungsmittel aus. Nur wenige Takte genügten, um hineingezogen zu werden in eine Welt voller Abgründe, größter Problemstellungen, schlimmster individueller Erfahrungen und – auch das! – so herzergreifender wie vergeblich scheinender Tröstungen. Es waren die sprichwörtlichen „himmlischen Längen“, die Robert Schumann zwar auf die große C-Dur-Sinfonie bezog, hier aber auch gelten können; nur dass jetzt die höllische Gegenwelt – Schubert selbst schrieb vom fatalen „Erkennen einer miserablen Wirklichkeit“ – nicht nur nicht fehlen darf, sondern als existenziell empfundene Erfahrungswelt gar stückprägend ist. Und da waren es dann schon die ersten Takte, mit denen das Minguet Quartett den Hörer fest im Griff hatte – und nicht wieder losließ. 43 Minuten später waren buchstäblich alle Messen gesungen, alle vorstellbaren Ausdrucksbereiche, Empfindungshöhen und -tiefen durchschritten, Kontrastschärfungen ungeahnten erregt dramatischen Ausmaßes (zumindest für die Kammermusik) durchlebt, durchlitten sowie, jetzt wirklich „himmlisch“, das Hohelied visionär-entsagungsvollster Melodik gesungen (Variationen); und das gelingt bei Schubert natürlich nur mit dem nahezu unausbleiblichen Bezug zum Tod! Deutlich zu spüren war, dass dem Minguet Quartett die Interpretation dieses Werkes innerstes Anliegen war. Noten als lediglich weit zu öffnende Tür zu Wesen und Verständnis einer Musik, bei deren Komposition Schubert stets sein großes selbstgestecktes Ziel, die Sinfonie, im Auge hatte. Was für ein „Zwischenerfolg“ auf dieser Strecke, und was für eine Bereicherung für die Gattung Streichquartett. Und für uns als Hörer*innen! Es ist schon so, und so war es auch an diesem Abend: ein Erlebnis mit denkbar nachhaltiger Wirkung.
Titelfoto © Irène Zandel