Giaocomo Puccinis große Tragödie Madama Butterfly, die seit 2022 Hunderttausende auf der Seebühne der Bregenzer Festspiele betörte, entfaltete auch bei den letzten Aufführungen in der diesjährigen, 77. Ausgabe unter Regie von Andreas Homoki seine ganze sinnliche Wucht. Thematisch verblüffend ähnlich und doch ganz anders kommt Fabian Panissellos Musiktheater „Judith von Shimoda“ daher. Mit der Uraufführung dieser Produktion in Zusammenarbeit mit der Neuen Oper Wien bekundeten die traditionsreichen Bregenzer Festspiele Offenheit zur musikalischen Gegenwart.
Man muss dieses Fest für die Sinne auf der Freilichtbühne mitten im großen See einmal erlebt haben. So manche Butterfly-Aufführung war durch die wilden Wetterkapriolen der vergangenen Wochen zum Abenteuer geworden. Auch das gehört zu diesen Festspielen. Aber jetzt dreht der Sommer nochmal richtig auf. Alles lädt zum Eintauchen, Mitfiebern und auch Mitleiden aus der Komfortzone heraus ein, wenn Puccinis Tragödie den psychischen Ausnahmezustand ihrer bedauernswerten Hauptfigur inszeniert. Der amerikanische Marineoffizier Pinkerton „kauft“ sich in Japan ein, „erwirbt“ in der potenziellen neuen Kolonie eine einheimische Frau, die er nicht liebt, sondern eigentlich nur als Besitztum, ja als Sache behandelt. Was jedoch nicht auf Gegenseitigkeit beruht. Denn Die Hauptperson Cio-Cio-San alias Madame Butterfly ist eben doch zu jeder Hingabe bereit. Und fällt im Moment des sehnenden Wartens und später des Verlassen-Werdens in alle tiefen, verwundbaren Emotionen hinein. Das Schicksal kennt keine Gnade. Als Pinkerton nach ewig langer Abwesenheit zurückkommt, lässt er jede Illusion brutal zerplatzen, in dem er seine neue Frau präsentiert und nur noch das gemeinsame Kind „abholen“ möchte. Madama Butterfly, von Anna Princeva verkörpert und stimmlich eindringlich bis in die letzten Zuschauerreihe wirkend, wählt den Freitod mit dem Dolch auf traditionell japanische Weise. Zum Höhepunkt tauchte die Lichtregie die Bühne in projiziertes Feuer, schließlich schoss auch ein realer Feuerball in den Nachtmittel. Überragend, wie Anna Princeva als Madame Butterfly die Bühne bespielt, untadelig, wie sich auch die anderen Darstellerinnen und Darsteller einfügten. Unbestechlich, wie die Wiener Symphoniker aus dem Off den Spannungsbogen bis in jede Gefühlsaufwallung hinein zu dosieren wussten. Und natürlich zeigte sich die optische und soundtechnische Realisation auch bei den letzten Aufführungen diesem Anlass würdig. Beglückend und für jeden Angereisten spürbar ist, wie diese Festspiele mitten in der Landschaft für die Menschen stattfinden. Das Wasser des allgegenwärtigen großen Sees zu bespielen, war im Jahr 1946 eine Notlösung: Orchester und Darsteller führten auf zwei Lastkähnen ein Mozart-Opernfragment auf. Bis heute ist das geniale Konzept einer Seebühne nach wie vor in seiner atmosphärischen Wirkung unerreicht.
Eine kühle Gegenwelt von sozialer Klaustropobie
Atmosphärisch und künstlerisch markiert Fabian Panisellos in Bregenz uraufgeführtes Musiktheater Judith von Shimoda das Gegenteil eines festlichen Freiluft-Events in lauer Sommernacht. Kalte Zugluft durch eine latent zu kalt eingestellte Klimaanlage verstärkt den Drang, hier irgendwann wieder raus zu wollen. Das passt plausibel auf jenes Szenario von sozialer Klaustrophobie, welches herzustellen dieses zeitgenössisches Musiktheater 100 Minuten lang alle Register kompromisslos zieht. Grundlage bleibt ein japanisches Schauspiel von Nyanin Aishi, welches Bertold und Hella Wuolojoki im finnischen Exil entdeckten und weiter entwickelten. Womit Brecht und Wuolojoki maßgblich die Deutung erweiterten: Jetzt kommentiert eine Art „Chor“ die einzelnen Handlungsepisoden.
„Kanonen und Zynismus hängen zusammen“ ist einer der vielsagenden Sätze, die den Kern der Sache treffen. Denn das Sein bestimmt das Bewusstsein. Oder: Wie hat sich ein aggressiver amerikanischer Wirtschaftsimperialismus, der auch im 19. Jahrhundert kein Fremdwort war, auf menschliche Einzelschicksale ausgewirkt? Die Amerikaner witterten in den 1850er Jahren den großen Deal mit dem noch sehr traditionsverhafteten Japan. Als dieses sich ziert, auf die von den USA eingeforderten „Freundschaften“ einzugehen, soll eben mit Waffengewalt nachgeholfen werden. Aus Idealismus für ihr eigenes Volk beschließt die angesehene Geisha Okichi, hier Judith genannt, etwas mit dem amerikanischen Konsul anzufangen. Über männliche Instinkte zu herrschen, könnte eine listige, weiche Waffe gegen die Kanonen sein. Der Preis, den Judith für diesen uneigennützigen Pragmatismus zahlt, ist der totalen Ehrverlust in einer traditionsverbundenen Gesellschaft. Also ist auch die Judith von Shimoda in Fabían Panisellos neuem Stück eine Ausgenutzte, die zur gescheiterten Heldin wird. Und ja – es geht natürlich um die Ausbeutung von Frauen durch die männliche Übermacht, noch dezidierter, subtiler und reflektierender als in Puccinis großer Oper, die das ganze eher emotional betrachtet.
Starke musikalische Darstellungskunst bei etwas vager Regie
Also dominiert gereiztes und verstörendes Unbehagen. Vor allem, weil deren konsequente szenische und vor allem musikalische Einlösung keine Gnade walten lässt. Alles, was der riesige Orchesterapparat plus Live-Elektronik plus doppelter Percussion-Section plus E-Gitarren aufbietet, verdichtet mit fast chirurgischer Präzison die kollektiv erregten Sprechakte. Die Grenze zwischen Gesang, melodramatischen Ausformungen und reinem Sprechtheater sind fließend und ständig wechselnd. Die stimmlichen Herausforderungen angesichts permanent dissonanter Intervall-Sprünge müssen extrem sein.
Die Darstellerinnen und Darsteller erwiesen sich als beeindruckend versiert und unerschrocken angesichts der fordernden Schwierigkeiten. Hinter dem Grad an ausgefeilter Finesse steht die Zusammenarbeit zwischen der Neuen Oper Wien und dem Amadeus Ensemble, die offensichtlich mit ganzer Leidenschaft betrieben wurde. Anna Davidsson als Judith kehrte in ihrem gleißenden Sopran ihren ganzen getriebenen Furor hinaus, zeigte aber auch viel innere Zerbrechlichkeit. Megan Kahts als ihre beste Freundin und ebenso als Teil des kommentierenden Chors spielte sich wandelbar durch dieses unstete Szenario, brachte dabei ihren beweglichen hellen Mezzopronan zum Leuchten. Sie selbst hätte sich wohl noch mehr Entfaltungsmöglichkeite ihrer sinnlichen Bühnenpräsenz gewünscht, die in der strengen Personenführung dieses Stückes aber nicht vorgesehen ist. Irgendwann vereinen sich die Darstellerinnen und Darsteller zu einer Art Rap-Nummer, was für einen kurzen Moment auch mal zum Lockerwerden verhilft. Dann übernimmt wieder die eiskühle, atonal-deklamatorische Strenge das Regiment.
Bregenzer Festspiele: Bühnenbild als Spiegel der Gesellschaft
Die Bühne als Spiegel der Gesellschaft. Dem trägt das Bühnenbild Rechnung, wenn es einen riesigen Spiegel im 45 Grad Winkel platziert, dass alles nochmal von oben zu sehen ist. Ansonsten bleibt die Regie weitgehend puristisch und irgendwie auch etwas vage. Ja, der Schwerpunkt der Regie durch Carmen Kruse, liegt in der Herauskehrung des feministischen Aspektes. Dabei bleibt es aber auch, wo eine politischere Ausdeutungen des geschichtlichen Hintergrundes hätte sichtbarer gemacht werden können. Passt allzu offene Amerika-Kritik augenblicklich nicht in den Zeitgeist? Wenigstens wird in Pasinellos Partitur irgendwann einmal die amerikanische Nationalhymne rückwärt abgespielt. Und stand hinter der konsequenten Vermeidung von jedem japanischen Kolorit auf der Bühne womöglich die Angst vor zu viel „kultureller Aneignung“? Oder wollte man einfach nicht der Sinnlichkeit der Madama Butterfly-Inszenierung auf der See-Bühne Konkurrenz machen?
Titelfoto © Anja Köhler