Jean-Nicolas Diatkine verbindet auf seiner neuen Aufnahme Chopins Klaviersonate h-Moll mit den vierundzwanzig Präludien. Dabei erweitert der französische Pianist das Verständnis für Zusammenhänge und konzentriert sich auf den fortschreitenden Prozess in dieser Musik. Vor allem aber zeichnet sich Diatkines Interpretationsstil durch eine humanistische Haltung aus, bei der keine persönliche Eitelkeit in die Interpretation einfließen soll. Stattdessen spielt er die Musik so, wie sie ist, mit kompromissloser Präzision und aufrichtiger Disziplin. Um zu diesem Fazit zu gelangen, bedurfte es einiger Zeit des regelmäßigen Hörens. Diatkines Klavierspiel drängt sich nicht spektakulär auf, sondern erschließt sich oft eher subtil, was in einer reizüberfluteten Gegenwart irgendwie erfrischend wirkt. Damit öffnet das Spiel des Franzosen umso mehr Perspektiven für die stilistische und emotionale Vielfalt, die sich mikroorganismenartig entwickelt und dennoch von einer stringenten Logik zusammengehalten wird. Diatkine lässt die Musik in seiner ganz persönlichen Schwingung atmen. Das verleiht zunächst der h-Moll-Sonate eine eigene, sehr gegenwärtige Aura – mit ausgeprägtem Gespür für Architektur und sinnvoll dosierter Agogik, aus der aber auch kraftvolle, motorische Impulse erwachsen.
Es geht um die „große“ Linie
Frédéric Chopin begann 1836 mit der Komposition der 24 Präludien und beendete sie 1839 im Kloster Valdemossa auf Mallorca. Chopins Musik steht für Romantik und noch mehr für eine stringente formale Logik, die oft direkt an Bach erinnert. Ähnlich wie Bachs „Wohltemperiertes Klavier“ führen auch die Präludien systematisch durch alle Tonarten. Im ersten C-Dur-Präludium modellliert Diatkine mit drängender und stürmischer Kraft aus den flächigen Tongeflechten eine pulsierende Rhythmik. Hier zeigt sich sofort seine Fähigkeit, auch komplexe pianistische Phänomene organisch aufzufassen. Das melancholische E-Moll-Präludium Nr. 4 pulsiert mit geerdeter Kraft und baut auf dieser Artikulation eine elegante, im besten Sinne „große“ Linie. Mit funkelndem Klang gestaltet er ein multidimensionales Klangpanorama aus den Akkordbrechungen im achten Präludium in F-Moll, um daraus eine sehnsüchtige Melodie erwachsen zu lassen. Das 13. Präludium zeigt, wie stark Bachs Logik darin verwoben ist und gleichzeitig eine tief empfundene Subjektivität zum Ausdruck kommt. Und ja, die Regentropfen pulsieren zart, wenn man die hingebungsvoll gespielten Achtel hört, die der balladesken Melodielinie Kontur geben. Diatkine verzichtet jedoch bewusst auf zu viel lautmalerische Effekte. Aber letztendlich ist ihre Gesanglichkeit in Kombination mit einer fast tragischen Dramaturgie für Diatkine viel bedeutsamer.
Die Beschäftigung mit einer neuen Aufnahme von bekanntem Repertoires animiert oft zu vergleichenden Hörsessions mit anderen berühmten Interpretationen – was manchmal spannender als jeder Krimi sein kann. Dabei geht es nicht um absolute Bewertungen, sondern darum, dass jede Interpretation im Idealfall neue Horizonte eröffnet. Jean-Nicolas Diatkines Chopin-Interpretation kann sich auf jeden Fall gegenüber jeder Konkurrenz behaupten, weil er mit hellwacher Neugier den Wahrheiten dieser Kompositionen auf den Grund geht und die hervorragende Aufnahmetechnik zugleich den heutigen State of the Art erfüllt.