Die Klassik ist schon ein seltsames Geschäft. Da werden Menschen in Anzügen und Abendkleidern auf hohe Bühnen gestellt, werden schon beklatscht, bevor sie überhaupt gespielt haben, geben vorgeblich komplexeste Musikstücke zum Besten und werden dafür frenetisch gefeiert. Daran kann man viel kritisieren und Erneuerung fordern. Und das ist auch richtig so. Wenn aber dann eine junge Geigerin spielt wie Leia Zhu, dann ist das alles egal. Dann brandet meinetwegen gerne minutenlanger Applaus, dann werden die Darbietenden verehrt und gefeiert, und man ist ergriffen wegen der Musik. Und dann erkennen auch die Zuhörer*innen in der letzten Reihe, warum es so eine große Leistung ist, die Geigenmusik von Camille Saint-Saëns so zu spielen, wie Leia Zhu es tut. Ich spreche hier nicht von Virtuosität oder halsbrecherischen Tempi, noch viel begeisternder als das ist diese unglaublich große Musikalität, die brennende Leidenschaft für das Spiel, die Musik zu leben, zu atmen, zu sein.
Die Londoner Geigerin veröffentlicht mit 19 ihr Debütalbum der Konzerte von Camille Saint-Saëns, eingespielt mit dem ORF Radio-Symphonieorchester Wien unter der Leitung von Howard Griffiths. Das Eröffnungsstück davon, „Introduction Et Rondo Capriccioso, Op. 28“, hat die Geigerin bereits 2021 mit dem London Symphony Orchestra unter Sir Simon Rattle auf der Open-Air-Bühne am Trafalgar Square gespielt. Auf dem Album dokumentiert Leia Zhu nun ihre Lebenswelt mit dieser Musik.
Saint-Saëns’ Werke für Violine sind feingliedrig, dosiert konstruiert und mit viel Witz ausgestattet. Aber der Ton der Geigerin bleibt bei allem Feinsinn immer verbindlich, butterweich klebt sie die Legati zusammen, führt Erzählungen ineinander über. Mit ihrem ungestümen Spiel als Markenzeichen spielt sie sich in lauten Passagen sehr in den Vordergrund, um dann im nächsten Moment größtmöglich kontrastierend leise, hohe Töne mit gläsernem und fragilen Spiel in das Orchester zu verabschieden. Diese große dynamische Breite wird gleich im ersten Konzert Nr. 1, Op. 20, offenbar. Das relativ kurze Werk, das in drei attacca gespielten Sätzen kurzweilig verfliegt, gibt gerade zu Beginn Leia Zhu die Gelegenheit, ihre Flexibilität und Möglichkeitspalette vorzustellen.
Leia Zhu mit Energie
Das ORF Radio-Symphonieorchester Wien ist dabei ein perfekter Partner und stellt mit Genuss und sehr schöner Balance zwischen den Instrumentengruppen festlich orchestrale Größe und schauspielmusikalische Detailarbeit in den Raum. Allerdings muss man auch sagen, dass das Orchester dann, wenn Energie in den schnellen Passagen aus Leia Zhu herausbricht, schon deutlich gefordert wird. Und für kein anderes Orchester wäre das anders.
Doch bevor wir zum Kleinholz kommen, müssen wir der Geigerin die Möglichkeit geben, ihr Können in so vielen Bereichen zu zeigen. Da ist zum Beispiel die exzellente Tongestaltung in den kantablen Melodien des zweiten Satzes „Andante Espressivo“ und kurz darauf dann wieder atemberaubende Genauigkeit in schnellen Tonfolgen. Bei aller Mühe, die das Orchester kurzzeitig hat, gibt es dennoch bei weitem genug Raum für die Streicher, die fröhlichen, tänzerischen Melodien mit der nötigen jovialen Unbekümmertheit zu malen. Das ist schon eine Gratwanderung, die der Klangkörper aber exzellent löst. Man kann sagen, dass Howard Griffiths in der Gesamtleitung das Beste aus allen Voraussetzungen herausholt, und um dem Fazit vorzugreifen: Das ist hier sehr viel!

Das zweite Violinkonzert Op. 58 steht dem ersten in nichts nach. Sehr einprägsame Melodien werden mit viel Spielfreude vor sehr festlich gestaltetem Orchesterhintergrund dargeboten. Im zweiten Satz, wieder „Andante Espressivo“, gibt es einige Glanzmomente für das ORF RSO, zum Beispiel bei den das gesamte Orchester beschäftigenden Wechselabschlägen, die mit Größe eindrucksvoll gesetzt werden.
Reißt uns alle mit
Und Leia Zhu spielt und spielt und reißt uns alle mit. Die Frage, ob diese großen Gestaltungsbereiche der Geigerin wirklich passend sind, stellt sich nicht. Es scheint, als habe sie nicht wirklich eine Wahl, als würde sie das nicht entscheiden. Auf mich wirkt es so, als spräche die Musik aus ihr, und sie ist nur das Medium. Wenn sie spielt, findet Musik statt, und nur diese zählt. Es geht nicht um ein „Wunderkind“, um eine junge Karriere oder ein gelungenes Debüt. Leia Zhu gibt sich dankbar und mit Demut in die Musik, um zu wirken und sozusagen sich selbst aufzuführen. Ich habe das selten erlebt oder gefühlt, aber hier geschieht etwas ganz Besonderes, und wir sind alle gut beraten, Leia Zhu Beachtung zu schenken, denn sie passiert, ob wir wollen oder nicht. Intensiver und lebensverändernder kann Musik nicht stattfinden.