Konzertantes Da capo der Osterfestspiele Baden-Baden
Ein Gastbeitrag von Philip Richter
Die Berliner Philharmoniker als Opernorchester zu Ostern
Berlin bietet mit seinen drei großen renommierten Opernhäusern eine der weltweit aufregendsten Opernlandschaften. Wenn die Berliner Philharmoniker jedoch einmal im Jahr für die Osterfestspiele Baden-Baden eine Oper einstudieren und dann noch Chefdirigent Kirill Petrenko die musikalische Leitung innehat, wird jede Aufführung „Unter den Linden“ oder an der Bismarckstraße in dessen Schatten gestellt. Denn wenige Tage nach Abschluss der Festspiele kehren die Berliner Philharmoniker mit dieser Oper in konzertanter Form in ihre heimische Philharmonie für eine Einzelaufführung zurück. In diesem Frühjahr hat sich das Orchester mit der Märchenoper „Die Frau ohne Schatten“ von Richard Strauss und Hugo von Hofmannsthal eine der komplexesten und herausforderndsten Werke der Spätromantik angenommen. Das viereinhalbstündige Werk ist im Repertoirebetrieb fast nicht zu bewältigen und hat in seiner Entstehungszeit sämtliche bis dahin gekannten Opernkonventionen gesprengt. Zwar vollendeten Strauss und Hofmannsthal die Partitur noch während des ersten Weltkriegs, eine Uraufführung wurde jedoch erst in Friedenszeiten im Jahre 1919 an der Wiener Staatsoper möglich.
Oper als Konzert bietet auch ohne Regie spannungsvolle musikdramatische Intensität
Liebevoll bezeichnete das kongeniale Duo Strauss und Hofmannsthal sein Opus magnum als „FroSch“. Mit seinen die Grenzen der menschlichen Stimme auslotenden Partien fordert es ähnliche Ansprüche an die solistische Besetzung wie Richard Wagners Der Ring des Nibelungen. Kein vergleichbares Opernwerk bedarf eines derart umfangreich besetzten Orchesterapparats, u. a. sind in der Partitur neben unzähligen Streichern, acht Hörner, chinesische Gongs sowie eine Orgel als auch eine Glasharmonika beschrieben. Mit seiner mystisch verwirrenden, zugleich symbolüberfrachteten und verschachtelnden Handlung vermag kaum eine Regiearbeit die Essenz des Werks zufriedenstellend herausarbeiten. Claus Guths szenische Deutung an der benachbarten Staatsoper Berlin wird als eine der gelungensten Werkinterpretationen der Gegenwart angesehen. Viel Beachtung fand nun auch Regisseurin Lydia Steier für ihre opulent ausgestattete, mit weiblicher Sicht auf die misogyn-anmutende Symbolik von „Frau ohne Schatten“ blickende Neuinszenierung zu den Osterfestspielen Anfang April. Und so beeindruckend das ausladende Festspielhaus in Baden-Baden auch anmuten mag: Die intime Nähe der Philharmonie mit unversehrtem Blick auf die sensationell musizierenden und normalerweise nicht als Opernorchester fungierenden Berliner Philharmoniker, bietet ihren ganz besonderen Reiz. „Petrenko mit seinen Berlinern“ – und weniger die Opernregie – sind schließlich der eigentliche Star der Osterfestspiele. Dieses erstklassige Orchester beim Musizieren zu beobachten ist weitaus aufregender als so manches Bühnenbild. Ein weiterer Vorteil konzertanter Aufführungen gerade der „Frau ohne Schatten“: Das Publikum braucht sich nicht den Kopf über Hofmannsthals psychologisch-esoterische Symbolik von Selbstüberwindung und Schattenwerfung bzw. Mutterschaft zu zerbrechen.
Petrenkos „Übermächte sind im Spiel“: Aktfinale als Kulminationspunkt
Bis in die 1990er Jahre wurde die „Frau ohne Schatten“ stets mit Strichen in der Partitur aufgeführt. Erst neuerdings hat sich die gänzlich ungekürzte und für die Stimmen umso herausfordernde Fassung durchgesetzt, welcher sich auch Petrenko bediente. Der Dirigent überließ hierbei nichts dem Zufall und zeigte, wie sich eine Festspielaufführung hinsichtlich ihrer musikalischen Exzellenz vom regulären, teils hektischen Opernbetrieb abheben kann. Dank akkurater und fast schon pedantischer Einstudierung fand jeder Ton im Ausdruck seine Bestimmung. Wie ein Besessener tauchte Petrenko mit zügigen Grundtempi in die Partitur ein und kontrollierte jede Artikulation und Dynamikänderung. Ohne sich hierbei in Kleinigkeiten zu verzetteln hielt er stets den Blick auf die großen dramatischen Bögen gerichtet. Er provozierte dabei besonders im zweiten Aufzug spannungsgeladene musikalische Effekte, wie sie nur mit einem Ausnahmeorchester wie den Berliner Philharmonikern möglich sind. Die zahlreichen Verwandlungen und Zwischenspiele dieser Oper gerieten unter seiner Leitung zu eigenen, kleinen symphonischen Dichtungen mit größtmöglicher Intensität. Ihm gelang es dabei extrem hohe Lautstärken zu produzieren, die trotz des Fortissimos niemals kakofon wurden und perfekt ausbalanciert auch im Tutti eine große Durchhörbarkeit sämtlicher Instrumentengruppen ermöglichten. Momente voller Intimität offenbarten sich im berührenden Cello-Solo, geheimnisvoll sowie zielgerichtet ausgeführt von Ludwig Quandt, durch welches Petrenko die Orchesterfarben in düstere Klangstimmungen hinabdämmte. Der Klimax schließlich im Finale des zweiten Aufzugs: Zunächst brodelte und flimmerte es im Orchester, Barak verharrte im Jähzorn, während Michaela Schuster in der Partie der Amme mesmerisierend ihre diabolischen Blicke durch das Publikum schweifen ließ. Just sprang Petrenko in die Luft und zog in den letzten Takten sein Tempo noch einmal an. Mit dem Amme-Ruf „Übermächte sind im Spiel“ entlud sich das eruptive Orchestertutti in drei kraftvoll nervenzersetzenden Paukenschlägen über dem Saal und riss das Publikum augenblicklich zu Ovationen hin.
Richard Strauss behauptete mit einem Augenzwinkern von sich: „Es ist schwer, Schlüsse zu schreiben. Beethoven und Wagner konnten es. Es können nur die Großen – Ich kann’s auch!“ Wie Recht der Komponist damit doch hatte – und mit größtmöglichem Effekt weiß Petrenko diese Schlüsse zu dirigieren!
Eine Stimme aus der Märchenwelt: Elza van den Heever überstrahlt als Kaiserin die Solistenriege
Ergänzend zum Orchester konnte sich auch die solistische Besetzung hören lassen. Zunächst Wolfgang Koch: Gelöst und profund, dabei niemals in Routine fallend, sondern authentisch und würdevoll, stellte dieser einen gewohnt liebevollen Färber Barak da. Als große Sängerdarstellerin wusste die Amme Michaela Schuster jeder Silbe eine eigene Mimik und Gestik zu verleihen, so dass sie auch ohne Kostüm vollends in ihrer Rolle aufging. Schusters markerschütternd-expressiv ergreifende Mezzo-Stimme glitt phrasenweise gekonnt ins Deklamatorische ab, um so der Partie Ausdruck zu geben.
Während Miina-Liisa Värelä als Färberin zuvor in Baden-Baden von einer Erkältung geplagt ihre Stimme schonen musste, konnte sie sich in der Philharmonie endlich frei aussingen und beweisen, welch gesangliche Größe sie für die Partie mitbringt. Ihre Stimme ist in der Höhe besonders markant, zugleich bleibt sie dank umfangreichem Register auch in der Tiefe sicher und eindringlich. Väreläs Interpretation wurde durch lyrisch klangvolle Zwischentöne geprägt, lediglich in den ausdrucksstarken Versen führte sie ihr Organ ins Hochdramatische.
Die Titelpartie der „Frau ohne Schatten“, die Kaiserin, konnte durch Elza van den Heever als neuen Star am Strauss-Himmel besetzt werden. Sie ist eine Ausnahmesängerin wie sie in jeder Sopranisten-Generation nur einmal vorkommt. Van den Heever formte sinnliche, zart-schwebende Vokale, die klangfarbenreich den Saal füllten. Ihre perlende, vor Schönheit glühende Stimme, wusste zu berühren.
Petrenko ist als Operndirigent immer wieder eine Wonne
Während Clay Hilley als geschätztes Ensemblemitglied der Deutschen Oper sowie Wolfang Koch und Michaela Schuster als langjährige Gäste beim Berliner Opernpublikum etabliert sind, möchten dem tosenden Schlussapplaus nach zu urteilen Miina-Liisa Värelä und Elza van den Heever — die beiden Newcomer des Abends — gerne zeitnah auf die Opernbühnen der Hauptstadt zurückkehren. Und Kirill Petrenko? Dieser lächelte dezent ins Publikum und zuckte schüchtern mit den Schultern. Trotz der Publikumsovationen blieb seinem demutsvollen Blick nicht anzumerken, wie er soeben den Mount Everest der klassischen Musik bezwungen hat. An diesem Abend dirigierte Petrenko wohl die musikalisch glanzvollste Opernaufführung des Jahres, Bravo!
Titelfoto © Monika Rittershaus