Ein Gastbeitrag von Ekkehard Ochs
Seit Montag ist sie in der vorpommerschen Hansestadt wieder der musikalische Anziehungspunkt: die Greifswalder Bachwoche! Zwischen dem 3. und 9. Juni bietet sie zum nunmehr 78. Male ein täglich schon mal bis zu 8 Veranstaltungen präsentierendes geistliches Musikfest. Es steht in diesem Jahr und unter direktem Bezug auf den 250. Geburtstag des hier geborenen romantischen Malers Caspar David Friedrich unter dem Motto „Bach romantisch“, vereint aber ansonsten den gewohnten und bemerkenswerte Vielfalt demonstrierenden Kanon höchst abwechslungsreicher Programme: mit musikalischen Morgen- und Nachtgebeten, täglichen Geistlichen Morgenmusiken – nie ohne eine Bach-Kantate! – Mitsingeproben, der täglichen Orgelreihe „Bach zur Nacht“, der traditionellen Dorfkirchen-Konzertreise, vielen sehr unterschiedlich besetzten und auch sinfonischen Konzerten – darunter die „Große Kammermusik“ (Orchester) und die „Kleine Kammermusik“ – mit Kinderkonzerten, Vorträgen, einem Orgelkurs, einem musikwissenschaftlichen Kolloquium, dem 7. Internationalen Gesangswettbewerb für Kirchenmusik sowie manchem anderen mehr. Nicht zu vergessen: das obligatorische Oratorium; diesmal Bachs Matthäuspassion in der Fassung der Mendelssohnschen Aufführung vom 11. März 1829 in Berlin.
Ein opulentes Programm also, das am Montag entsprechend repräsentativ mit einem Gastspiel des Dresdner Kreuzchores im Dom St. Nikolai eröffnet wurde! Dies sozusagen ein Gruß aus der langjährigen Wirkungsstätte C. D. Friedrichs, nämlich Dresden, und ein beziehungsreicher Konzertraum, in dem der Maler getauft und getraut wurde.
Zu den „Kruzianern“ muss man nicht mehr viel sagen: ein Knabenchor, der ungeachtet seines Alters von etwa 800 Jahren bemerkenswert jugendlich wirkt und dank seiner künstlerischen Qualitäten weltweit den Status eines hervorragenden Ensembles genießt. Dazu ein Leiter mit Kultstatus: Kreuzkantor Martin Lehmann! Er wurde in Malchin (Mecklenburg-Vorpommern) geboren, war selbst „Kruzianer“ und erreichte mit seiner zehnjährigen Tätigkeit als Leiter des Windsbacher Knabenchores geradezu chorolympische Höhen. Seit 2022 ist er als 29. Kreuzkantor der „Chef“ des Dresdner Kreuzchores. Und der dankt ihm die Vermittlung seiner immensen Erfahrungen mit einem Qualitätsstandard der Sonderklasse! Quod erat demonstrandum!
Das Greifswalder Programm war so recht geeignet, den thematischen Anlass mit einem die vorzüglichsten Qualitäten des Chores betonenden vier- bis achtstimmigen Repertoire zu verbinden. Also Bach, natürlich. Der weniger bekannte Johann (1604-1673) mit der Motette „Unser Leben ist ein Schatten“, der Thomaskantor dann mit weiteren Motetten. Der Dresdner Hofkapellmeister Schütz mit Beispielen aus den Kleinen Geistlichen Konzerten 1636 und der Geistlichen Chormusik 1648. Dazu Motettisches von Mendelssohn, Einzelbeispiele von Brahms, Bruckner, Joseph Renner jun., Zoltán Kodály und Jaakko Mäntyjärvi ( *1963). Als „Pausenmusik“ für den sehr geforderten Chor gab es Bachs Orgel-Präludium und Fuge C-Dur BWV 531 (Sebastian Knebel). Im Übrigen verstärkte eine instrumentale Continuo-Gruppe die jeweils dafür geeigneten Beiträge: Sebastian Knebel (Orgel), Johanna Oelmüller-Rasch (Viola da gamba), Tillman Steinhöfel (Violone) und Anne-Kathrin Tietke (Laute),
Nehmen wir das Fazit vorweg: Helle Begeisterung im ausverkauften Dom St. Nikolai für ein wahrlich beeindruckendes Konzert. Wie auch nicht, wenn sich in dreizehn sehr verschiedenen Beiträgen eine geradezu übervoll scheinende Palette chorisch anspruchsvollster Gestaltungsmöglichkeiten öffnet. Wenn Klangliches, was oft sehr verführerisch naheläge, nicht bloße Ohrenweide bleibt, sondern sich auch die „schönste“ Musik als durchdachtes Kunstwerk, als Gegenstand musikalischen Denkens und subjektiv bestimmtes Produkt wirkungsmächtiger künstlerischer wie inhaltlicher „Botschaften“ präsentiert. Wer Ohren dafür hatte, kam auf besonders intensive Weise auf seine Kosten. Denn der Chor besitzt die ausgeprägte Fähigkeit, aus Noten auch das herauszuholen, was sozusagen „hinter ihnen“ steht: eine interpretatorisch begründete Absicht, eine „Mitteilung“, ein Kommunikationsangebot.
Gleichmaß verbietet sich da von selbst. Beliebigkeit ebenfalls. Und so überzeugt der Chor vor allem mit einer sprachlich, gesangstechnisch, klanglich und – allgemein formuliert – musikalisch wie musikantisch ungemein differenzierten Behandlung der Chorsätze. Das Ergebnis: Die Musik kommt gleichsam wie eine Rede über die Rampe, hörbar strukturiert, rhetorisch artikuliert, Sinnzusammenhänge verdeutlichend und damit den Hörer sehr direkt ansprechend, ja fesselnd. Das alles ohne jede Maniriertheit, nicht als „Absichtserklärung“, sondern mit einer beeindruckenden, stets musikantisch überzeugenden Selbstverständlichkeit. Und was für eine Klangregie: Kraftfülle ohne Härte oder Schärfe, Schmiegsamkeit und Weichheit ohne Anbiederung, ununterbrochene diffizile Arbeit am Detail (anscheinend) ohne jede Mühe. Dazu eine Agogik, die zwischen Bach und Kodaly oder den unorthodoxen Klängen einer Klage um die Opfer des Estonia-Untergangs 1994 (J. Mäntyjärvi) größtmögliche Glaubwürdigkeit des Gesungenen garantiert. Und dies auch noch mit kontrastreicher Lebendigkeit, klanglich transparent und stets locker. Professionalität pur! Fast möchte man sagen: kein Wunder, wenn ein Mann wie Martin Lehmann vor dem Chor steht. So aufschlussreich wie vergnüglich ist es, ihn agieren zu sehen, als fast beschwörenden Modellierer faszinierender Klangwelten. Aber letztlich auch das mit der selbstversändlichen, dennoch stets hochkonzentriert wirkenden Souveränität des in allen chorischen Lebenslagen erfahrenen Praktikers. Er hatte es in der Hand, auch das Schwierigste leicht erscheinen zu lassen, den Hörer mal so eben klanglich zu überwältigen und jede Menge Glücksmomente zu verteilen. Sie werden wohl lange nachklingen.