Die Flötistin Nolwenn Bargin, ihr Ensemble Chant du Vent und die Pianistin Maki Wiederkehr werfen ein Licht auf den französischen Flötisten Philippe Gaubert und seine Stücke in Kammermusikbesetzung. Im Interview sprach sie über ihr neues CD-Album „Philipp Gaubert“ persönliche Prägungen durch ihre bretonische Heimat und über die künstlerischen Möglichkeiten in dem von ihr gegründeten Kammerensemble.
Frau Bargin, wer sitzt dort auf dem Coverbild und guckt aufs Meer hinaus?
Das sind wir beide, die Pianisten Maki Wiederkehr und ich. Das Bild hat eine Künstlerin aus der Bretagne gezeichnet, die ich gut kenne. Ich habe ihr die Musik zur Inspiration geschickt und die Geschichte von uns beiden erzählt. Sie hat dann alles aufgrund der Musik gezeichnet.
Sie leben ja jetzt in der Schweiz. Haben Sie noch einen starken Bezug zur Bretagne?
Meine Eltern leben dort und ich habe hier einen engen Freundeskreis. Ja, es zieht mich immer wieder dorthin. Ich habe leider meist nur im Sommer Zeit, dorthin zu gehen. Es ist einfach eine sehr weite Reise. Aber es ist mir wichtig. Ich bin nämlich auch passionierte Seglerin und sogar Segel- Lehrerin. Das Wasser ist ein Element, das für mich sehr wichtig ist.
Es ist durchaus ein Revier für Könner dort, kann ich mir vorstellen.
Man braucht schon viele Kenntnisse, allein wegen der vielen Felsen und der riesigen Gezeiten- Unterschiede.
Die westlichste Region der Bretagne heißt Le Finistère. Noch dramatischer kann das europäische Festland wohl kaum zu Ende gehen als dort. Beeinflussen diese geografischen Gegebenheiten Ihre Musik?
Die Flöte verkörpert für mich die Kraft des Windes. Deswegen habe ich mein Ensemble auch „Le Chant du Vent“ genannt. Wenn ich in der Bretagne bin, habe ich immer das Gefühl, ich bin in einem Bild drin. Die französische Malerei, z.B. von Claude Monet, hat mich auch stark inspiriert, abgesehen von der ganzen französischen Musik. Claude Debussy, Maurice Ravel und Philippe Gaubert sind Komponisten, die mir sehr viel bedeuten. Das alles gehört sehr stark zusammen. Für mich ist es schwer abzugrenzen: Wo hört die Natur auf und fängt die Musik an? Wo ist die Malerei?
Die Stücke auf der CD hören sich wie ein durchgängiger Atem an. War das so beabsichtigt?
Mir war es wichtig, Stücke miteinander zu komponieren, die einfach mehr leisten, als einfach nur zu zeigen, wie ich spiele. Es sollte einfach mehr herauskommen als ein virtuoses Flöten-Recital. Viel lieber stelle ich mir einen Spaziergang am Meer vor oder eine schöne Reise. Also habe ich mir hier über die Mischung der beteiligten Instrumente Gedanken gemacht. Deswegen gibt es hier so viele Kombinationen zwischen der Flöte und der Geige oder dem Cello. Erst dadurch kommt die Vielseitigkeit meines Instruments richtig zum Tragen.
Die Interaktion mit verschiedenen Klangfarben wirkt wie ein Wechselspiel der Lichtstimmungen, die ja auch gerade in der Bretagne sehr subtil sind. Jetzt mal zum Programm für diese CD. Wir sind Sie auf Philippe Gaubert gestoßen?
Ich bin Professorin an der Stella Vorarlberg Privathochschule für Musik Feldkirch. Viele Kompositionen von Philippe Gaubert eignen sich als Übungsstücke, denn es gibt für mich kaum etwas besseres, als damit den spezifischen Klang der französischen Schule zu vermitteln. Einige sind wegen ihrer virtuosen Anforderungen auch als Prüfungs-Stücke sehr beliebt. Ich selbst wollte noch tiefer in diese Materie eindringen. Mich interessierte Philippe Gaubert als künstlerische Persönlichkeit und als Mensch. Deswegen habe ich immer mehr in die Tiefe recherchiert. Vor allem das Buch von Yvette Poiré-Gaubert mit dem Titel Philippe Gaubert war für mich sehr prägend und hat mich schließlich dazu gebracht, eine ganze CD nur mit Werken von Philippe Gaubert aufzunehmen.
Was für eine Stellung im Musikleben hat Philippe Gaubert?
Er war eine einflussreiche Persönlichkeit, denn er war nicht nur Flötist, sondern vor allem Dirigent. Jede Flötistin und jeder Flötist kennt Gaubert. Alle Pariser Musiker kennen ihn, weil er der wichtigste Dirigent der Pariser Oper war. Er war gewissermaßen der Karajan von Paris. Viele seiner Flöten-Kompositionen sind bei Studierenden und auch bei Wettbewerben sehr verbreitet, zum Beispiel seine Fantaisie für Flöte und Klavier. Wenn man die Soloflötenstelle an der „Opera de Paris“ bekommen will, muss man dieses Stück von Gaubert spielen können.
Können Sie ihn als Person charakterisieren?
Es gibt da eine besondere Geschichte, die mir sehr gut gefiel: Mitten im Ersten Weltkrieg fand er in den Trümmern ein Klavier, das noch erhalten geblieben war. Und er hat angefangen, drauf zu spielen, obwohl gerade das Kriegsgeschehen an diesem Ort tobte. Freunde haben vergeblich versucht, ihn davon abzuhalten, aber er wollte unbedingt spielen. Ich würde Gaubert als einen weltoffenen Träumer bezeichnen – wenn ich es auf den Punkt bringen müsste.
Wie umfangreich ist Gauberts Oeuvre?
Es ist nicht so riesig. Mit seinem kompletten Flötenwerk könnte man drei CDs füllen. Gaubert hat nicht nur für Flöte, sondern auch für Geige und Cello komponiert und auch viele Lieder gemacht. Er ist ja relativ jung gestorben, muss man wissen. Komponieren war auch nicht seine Hauptbeschäftigung, weil er ja in erster Linie Dirigent war. Ich würde sagen, insgesamt gibt es ca. 150 Werke.
Heute gibt es anscheinend viel Nachholbedarf, um seine Werke kennenzulernen. War das auch die Absicht dieser CD von Ihnen?
Ja, ich wünschte mir, die Kammermusikstücke von Gaubert würden öfter gespielt.
Ich höre bei Gaubert einen „sanften“ Impressionismus heraus. Wo Debussy stärker in die Moderne vordringt, bewahrt sich Gaubert deutlich romantischere Züge. Wie würden Sie ihn im Vergleich zu Debussy stilistisch einordnen?
Manchmal bleibt Gaubert etwas in einer „Komfortzone“, aus der sich Debussy dann – im Vergleich- doch stärker erhoben hat. Das soll jetzt keine Kritik sein, sondern nur der Einordnung dienen. Während Debussy die Harmonie erforscht und neu denkt, schreibt Gaubert eine schöne, verträumte Musik. Ein impressionistisches Anliegen ist dennoch stark ausgeprägt – vor allem die drei „Aquarelle für Flöte, Cello und Klavier“ deuten darauf hin. Gaubert war nie am glamourösen Leben der Pariser Salons interessiert. Er wollte in erster Linie für die Natur komponieren. Übrigens hat man Gaubert auch nachgesagt, dass er den schönsten Flötenton von allen hatte.
Wo kommt dieser typische Sinn fürs Atmosphärische in der französischen Musik her?
Oh, das ist eine gute Frage. Das geht meines Erachtens schon aus viel älterer französischer Musik hervor. Mir fällt hier spontan Michel Blavet, ein Komponist und Flötenvirtuose aus dem 18. Jahrhundert ein. In seinem Opus 2, einer Sammlung von 6 Sonaten für Flöte und Basso continuo, ist jeder Satz eine Art Porträt, das entweder den Namen einer realen oder fiktiven Person trägt oder einen Titel, der eine Eigenschaft erinnert. Vieles dürfte sich hier ähnlich wie in der Malerei verhalten – man kann beides hier nicht voneinander trennen. Kunst will hier nicht mehr so sehr geistig oder philosophisch sein, sondern vor allem den Menschen und seine Gefühle beschreiben.
Können Sie mir noch ein paar Beispiele und Details geben, was Sie persönlich und im Detail in Stücken auf dieser CD fasziniert?
Besonders überrascht haben mich die Kompositionen für Triobesetzung: Die Instrumentierung ist hier sehr raffiniert und wirkt zum Beispiel in den „Médailles Antiques“ so, als würde sich die Flöte im Schatten der Geige bewegen – oder anderes ausgedrückt, die Flöte wird zu einer weiteren Klangfarbe der Geige. Vergleichbare Effekte sind mir schon mal in Ravels Tondichtung „Ma Mère L`Oye“ aufgefallen. Erwiesen ist übrigens – darauf deutet meine Lektüre der Biografie von Gaubert hin – dass ihm viele kompositorische Ideen für seine Kammermusikstücke beim Dirigieren kamen.
Wie muss man sich die Arbeit im Ensemble Chant du Vent vorstellen?
Das Ensemble „Chant du Vent“ hat keine feste Besetzung wie in einem Trio oder Quartett, sondern ganz flexibel aufgestellt. So sind wir nicht auf ein bestimmtes, nur für eine Besetzung passendes Repertoire fixiert. Ich kann mir bei jedem neuen Repertoire überlegen, wer passt hier rein und frage dann, wer mit mir spielen möchte. Bei der „Tarantelle“ für Flöte, Oboe und Klavier von Philippe Gaubert habe ich zum Beispiel als erstes die Oboistin Maria Sournatcheva gefragt. Sie kannte Philipp Gaubert noch nicht, aber war neugierig darauf, ihn kennenzulernen. Es braucht hier eine Oboistin, die Zirkularatmung beherrscht, denn das braucht man für die gesamte letzte Passage, die wirklich unglaublich komponiert ist. Ich habe das große Glück, am Musikkollegium Winterthur zu arbeiten, wo ich ständig interessante Musikerinnen und Musiker treffe. Mein Anliegen ist es, dass wir gemeinsam etwas teilen, ebenso mit unserem Publikum. Im Idealfall können wir es auf eine imaginäre Reise schicken. Das ist in diesen aktuellen Zeiten ganz besonders wichtig.
Nolwenn Bargin, vielen Dank für dieses Interview!
Titelfoto © Marco Borggreve