Die Wiener Pianistin Mitra Kotte steht am Anfang ihrer Karriere. Unbestritten. Aber man kann nicht oft genug betonen, dass Menschen schon viel hinter sich haben und einen Weg gegangen sind, wenn die Klassik-Journaille beginnt, auf sie aufmerksam zu werden. Und die namhaftesten aller Ausbildungsreferenzen, die Kotte auf ihrer Website auflisten kann, muss man sich am populärsten aller Instrumente erst einmal erarbeiten. Folgerichtig ist ihre Saison 2024/2025 gut gefüllt mit interessanten Engagements an bekannten Konzertorten.
Und dann bringt Mitra Kotte nun auch ihre Debüt-CD heraus. Aber “Herstory” ist nicht das übliche Erstlingskonzept mit gut eingespielten Werken von Schumann, Beethoven oder Schubert. Schon die Auswahl an Stücken, die allesamt von Komponistinnen stammen, weckt sofort mein Interesse. Und alle, die die Musik von Emilie Mayer oder Amy Beach bereits kennen, fühlen vielleicht ähnlich wie ich, dass diese neben den oben genannten männlichen Pendants zu den ganz großen Klassiker*innen der Kulturgeschichte gehören.
Im Interview erzählt uns die Pianistin mehr über das Projekt. Das Gespräch führte Andreas Meier.
Liebe Mitra Kotte, sogar unabhängig von der thematischen Gestaltung, ist das Programm dieses Albums im Wortsinne „außergewöhnlich“.
Ja, Ich durchschreite damit ein Jahrhundert Musikgeschichte. Eine Musikgeschichte, die neu gedacht werden muss, wo Komponistinnen und ihre meisterhaften Werke mit eingeschlossen werden. Dieses Programm soll einen weiteren Schritt in diese Richtungsetzen und mit seiner Vielfältigkeit dem Publikum musikalisch eine neue Welt eröffnen.
Die in Paris geborene Louise Farrenc hatte, wenn man so will, das, was vielen ihrer komponierenden Kolleginnen jener Zeit fehlte: Selbstbewusstsein und Unterstützung. Sogar Robert Schumann lobte sie in seiner Neuen Zeitschrift für Musik, ihr Mann, der Verleger Aristide Farrenc, verbreitete ihre Werke, 1842 wurde sie als erste Frau Professorin am Pariser Konservatorium. Eine Bilderbuchkarriere! Dieses kraftvolle Selbstvertrauen kann man auch in ihrem Souvenir des Huguenots hören, bei dem es sich, gewissermaßen eine ihrer handwerklichen Spezialitäten, um ein Variationswerk handelt, in diesem Fall über den Luther-Choral Ein’ feste Burg ist unser Gott, den sie Giacomo Meyerbeers Oper Les Huguenots entnahm. Ein virtuoses Stück …
… o ja! Selbstbewusstsein hört man hier auf jeden Fall! Schon in den ersten Takten reißt sie das Publikum mit und auch in den Variationen kommen unzählige technische Herausforderungen hinzu. Man kann und muss wirklich sehr viele pianistische Fähigkeiten zur Schau stellen.

Diesen kraftvollen, mitunter überschwänglichen Charakterzug teilte Farrenc auch mit Emilie Mayer. Ihre gesellschaftliche Unangepasstheit – so erschien sie der Schriftstellerin Marie Schilling zufolge „bei festlichen Feiern auch mal ohne Hut – unmöglich für eine Dame – und amüsierte sich über das Entsetzen der Anwesenden“ – zeigt sich dabei auch in einer enormen musikalischen Experimentierfreude, durch die sie sich den Beinamen des (oder vielleicht eher „der“?) „weiblichen Beethoven“ verdiente. Neben dieser rebellischen Seite war ihr dabei auch das Leichte, Heitere nicht fremd, wie der Walzer Tonwellen beweist. Ist das Stück gerade in seiner vordergründigen Schlichtheit ein passender Gegenpol zum umfangreichen Variationswerk Farrencs?
Ja, das ist genau die musikalische Vielfalt, die ich an unserer Auswahl faszinierend finde. Dieser Walzer ist wirklich entzückend. Es gibt diesen heiteren Beginn, der dann in einen ruhigen Mittelteil führt, bei dem wir noch einmal eine völlig neue Sphäre betreten. Bei Farrenc drängt die Musik eigentlich ununterbrochen weiter, kommt nie zur Ruhe, bei Mayers Tonwellen gibt es dagegen fast eine Art Ruhepol.
Die folgenden drei Komponistinnen bauten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf den Errungenschaften der Generation um Farrenc und Mayer auf, fest entschlossen, sich auf dem hart erkämpften Platz zu behaupten. Marie Jaëll, Luise Adolpha Le Beau und Cécile Chaminade studierten an den renommiertesten Konservatorien und bei den angesehensten Privatlehrer:innen, reisten als Klaviervirtuosinnen durch Europa und traten mit ihren Kompositionen selbstbewusst an die Öffentlichkeit. Und auch wenn von wirklicher Gleichberechtigung noch keine Rede sein konnte, so gelang es ihnen doch, nach und nach die Akzeptanz ihrer männlichen Kollegen zu erreichen. Wie empfindest du diesen Generationenwechsel musikalisch?
Man kann schon sagen, dass die ausgewählten Werke dieser drei Komponistinnen im Vergleich zu Farrenc und Mayer etwas komplexer, tiefgründiger und weniger selbstdarstellerisch sind, auch die Stimmführung ist generell etwas dichter. Aber sie sind immer noch sehr virtuos! Aber eben zusätzlich dazu viel reicher und dichter. Einer der Gründe könnte auf jeden Fall der von dir beschriebene verbesserte Zugang zur musikalischen Bildung sein. Vielleicht mussten sich die Komponistinnen nicht mehr in dem Maße durch Virtuosität beweisen und konnten sich gedanklich während des Komponierens auch einmal zurücklehnen. Man könnte sagen, sie trauten sich bewusst, „weniger“ zu machen.
Auch im weiteren Verlauf des Albums können wir Werke von ausgesprochenen Pionierinnen entdecken. So handelt es sich etwa bei Amy Beachs 1896 vollendeter Sinfonie e-Moll op. 32 um die erste Sinfonie einer US-amerikanischen Frau überhaupt. Während sie sich hier stark von Antonín Dvorák inspirieren ließ, scheinen die vier Jahre zuvor entstandenen Four Sketches zudem den Geist des französischen Impressionismus vorauszuahnen. Bezeichnenderweise überschrieb sie jeden der vier Sätze mit Zitaten französischer Dichter. Neben der gemeinsamen Tonsprache ist das eine spannende Parallele zu Nadia Boulangers Vers la vie nouvelle, den diese während des Ersten Weltkriegs komponierte und ebenfalls mit einem lyrischen Motto überschrieb: „In die drückende Atmosphäre – sickerten Zweifel und Verzweiflung ein. Aber ferne, klare, reine Klänge erheben sich und in Richtung der Hoffnung auf ein besseres Leben geht der Mensch, vertrauensvoll, zärtlich und ernst.“
Bei Vers la vie nouvelle spürt man wirklich die musikalische und programmatische Richtung – eine Richtung, die Takt für Takt aus der Verzweiflung in die Hoffnung führt. Durch den durchgehenden Orgelpunkt, den es im ganzen Stück gibt, spürt man diesen Druck, der sich dann in den letzten Takten auflöst.
Also fast programmatisch vertont.
Die Frage ist nur: Was war zuerst, der Text oder die Musik? Bei Amy Beach fällt auf, dass diese vier Stücke untereinander sehr unterschiedlich sind, aber jedes einzelne einfach wundervoll ist. Die Four Sketches erinnern mich wiederum tatsächlich sehr an Dvorák. Dieses Kokettieren mit den französischen Zitaten scheint mir auch ein bisschen typisch „amerikanisch“.
Auch Dora Pejacevic war eine Vorreiterin in ihrer Heimat und gilt als erste kroatische Komponistin, die mit Orchesterwerken, wie etwa ihrer grandiosen fis- Moll-Sinfonie an die Öffentlichkeit trat. Auch hinter ihrem Zyklus Blumenleben verbirgt sich mehr als nur ein bunter Strauß gediegener Charakterstücke, sondern ein wahres Füllhorn musikalischer Ausdruckskraft.
Hier finde ich, dass der Titel, ähnlich wie bei Vers la vie nouvelle und übrigens auch bei Maria Hofers Die Maschine, einfach ein perfektes Bild zur Musik schafft! Das Schneeglöckchen klingt winterlich, Die Rose klingt voll und romantisch. Das ist alles sehr farbenfroh …
… und dabei eben ein spannender Gegenpol zu Die Maschine der 1894 in Amstetten geborenen Maria Hofer, die als Komponistin, Pianistin und Organistin seinerzeit mit den bedeutendsten Persönlichkeiten der Kultur, von Arnold Schönberg bis Stefan Zweig, in Kontakt stand und in deren Musik man wirklich den Puls der Moderne pochen hört. Da klingt Debussy und Strawinsky aber eben auch die Zweite Wiener Schule an. Verbirgt sich dahinter, gerade in Verbindung mit dem zu jener Zeit eher „männlich“ konnotierten Titel Die Maschine, vielleicht auch eine Form künstlerischer Emanzipation?

Wie du sagst, man hört wirklich eine Maschine, mit diesen repetitiven Rhythmen. Formal entspricht es einer Toccata, also eine alte Form, aber stilistisch und programmatisch ist es natürlich hochmodern. Der Gedanke liegt schon nahe, dahinter eine Form künstlerischer Emanzipation zu sehen.
Am Schluss des Programms stehen die Aprilpräludien der 1915 in Brünn geborenen Vítezslava Kaprálová. Eine außergewöhnliche Komponistin und eine der ersten auch international reüssierenden Dirigentinnen, die während ihres kurzen Lebens – sie starb im Alter von nur 25 Jahren – mehr als 50 Werke komponierte.
Die Aprilpräludien haben mich wirklich besonders beeindruckt! Auch diese Stücke sind stilistisch und im Charakter untereinander äußerst unterschiedlich. Ich dachte mir bei jedem neuen Abschnitt: Aha, so kann man auch komponieren, interessant (lacht). Die Stücke sind ja genau hundert Jahre nach Farrencs Souvenir des Huguenots entstanden …
… und schlagen damit einen musikhistorischen Bogen zum Anfang des Programms. Wie würdest du die Entdeckungsreise, die du auf diesem Album unternimmst, zusammenfassen?
Es liegt mir wirklich am Herzen, alle Komponistinnen mit ihren jeweils eigenen Tonsprachen und Klangfarben vor- und dabei jedes Kunstwerk auch als solches herauszustellen; jedes Stück als eigenen Kosmos präsentieren. Es ist doch erstaunlich, dass es über einen so langen Zeitraum hinweg derart begabte Komponistinnen gab, die herausragende Werke für die Nachwelt geschaffen haben – und das trotz der Schwierigkeiten, denen sie sich gegenüber sahen.
Mitra Kotte, vielen Dank für dieses Gespräch!
Titelfoto © Andrej Grilc