Nuno Côrte-Real ist ein äußerst vielfältiger, zeitgenössischer Komponist, der als Dirigent und Komponist in Portugal führend ist. 1971 in Lissabon geboren, wurde er 2018 und 2019 mit dem Preis für das beste kompositorische Werk der portugiesischen Gesellschaft ausgezeichnet. Er hat mit zahlreichen namhaften Orchestern zusammengearbeitet. Seine jüngste CD „Rock Symphonies“ hat er mit dem Orchestra Sinfonica de Milano eingespielt.
Der Begriff Rocksymphonie wird zurzeit für sehr unterschiedliche Musikstile genutzt – von Crossover bis zur rockigen Interpretation von Symphonien. Lassen Sie uns diesen Begriff deshalb auseinandernehmen. Was verstehen Sie im Fall ihrer neuen CD unter Symphonie?
Ich verstehe darunter eine symphonische Größe, aber nicht eine wirklich Symphonie, wie beispielsweise die von Beethoven. Ich gehe zurück zum griechischen Original des Wortes, wo man darunter „gemeinsam zu musizieren, zu tönen“ verstanden hat – um schöne Klänge zu erzeugen. Ich weiß, das kann etwas verwirrend sein. Aber ich finde, man kann beispielsweise auch an eine Symphonie der Gefühle denken. Und dann die Rock-Seite. Es ist ja nicht wirklich Rock ‘n Roll, das könnte es natürlich auch sein. Mir geht es mehr um die Gefühle, die ich habe, wenn ich Rockmusik höre, denn ich bin damit aufgewachsen. Natürlich ebenfalls mit Klassik, aber ich habe starke Einflüsse von Rockbands erlebt, wie Pink Floyd, Supertramp, Genesis … ich hatte eine eigene Rockband, in der ich Gitarre gespielt habe. Ich habe dort auch gesungen und meine eigenen Stücke komponiert, als Jugendlicher. Somit geht es in dieser Rocksymphonie nicht um den Stil, sondern um die Gefühle, die Wahrnehmung. Das habe ich absichtlich so gemacht, denn normalerweise ist zeitgenössische Musik sehr hart und dissonant, ohne Rhythmus, und ich wollte diesen rockigen Rhythmus und die Gefühle in mein Werk mit hineinbringen. Wenn ich beispielsweise Beethoven höre, die siebte Symphonie, dann ist das für mich Rockmusik. Besonders in den letzten Bewegungen. Rockmusik im Sinne von sehr kraftvollen, energetischen, obsessiven Rhythmen – „da diii da, da diii da, tunn, tunn, dam.“ Das kommt doch einer Rockband sehr nahe!
Das kann man für Beethovens Zeit wirklich sagen und auch das Publikum war anders, nicht so brav und gesittet wie heute in klassischen Konzertsälen.
Ja es hatte etwas „Wildes“ so wie die Rockmusik auch. Ich vermisse diese Energie in zeitgenössischer Musik, bei dem, was ich während meines Studiums tun musste. Mit dieser CD versuche ich, diesem Image, das die zeitgenössische Musik hat, zu entfliehen. Ich will niemanden angreifen, aber ich finde es ist oft stereotyp – das ist nicht gut. Tatsächlich ist es sehr schwer, zeitgenössischer Musik zuzuhören und ich möchte aus diesem Dilemma herauskommen. Es gibt ein Stück auf der CD das heißt „Rock“
Das ist das erste Stück, nicht wahr?
Ja. Es heißt genau „Rock a tribut to Ligeti“. Ligeti war ein ungarischer Komponist…
Aber er war kein Rockstar…
Nein, aber es ist meine Hommage an ihn. Und ich habe sozusagen den Rock hinzugefügt. Der Anfang ist sehr rhythmisch. Ich finde, es ist auf seine Art ein wenig obsessiv wie Beethoven bähm, bähm – bähm bähm … (Anm.: der Rest wird auf den Tisch getrommelt…)
Es hört sich so an, als hätten Sie dies nicht kürzlich in ihrem Kämmerchen entwickelt, sondern als ginge es auf einen langen Traum zurück, ein wenig die zeitgenössische Musik zu verändern. Ist das richtig? Wann hat das begonnen?
Ja, das stimmt absolut. Ich glaube, es war zum Ende meines Studiums. Es ist folgendermaßen – dies ist jetzt etwas polemisch – wenn man die Akademie besucht, um Musik und Komposition zu studieren, werden einem bestimmte Formate vorgeschrieben. Du kannst mit sehr großen Ideen und Vorstellungen von Melodien dorthin gehen und dann musst du plötzlich wie diese Stereotype schreiben – seriell -. Es gibt vieles, was verboten ist, du sollest dies und jenes nicht nutzen. Wenn du auf der Grundlage von traditioneller Musik komponieren möchtest, ist das zwar in Ordnung, aber dann must du sie „zerstören“ Die Anforderungen sind sehr eng. Und seit dieser Zeit, seit dem Ende meines Studiums, wollte ich immer von diesen Vorgaben frei sein. Ich war damals wirklich sehr deprimiert für eins, zwei Jahre mit dem, was ich zum Ende meines Studiums zu tun hatte. Ich war damals in Holland, in Rotterdam. Es gab so schöne Lieder, warum durfte ich sie nicht nutzen? Ich dachte an die Melodien, manchmal gab ich ihnen andere Harmonien und anderer Instrumente und dann fragte ich mich, warum sollte ich das nicht machen. Ich begann zu kämpfen – und Sie sehen, ich bin freigekommen. 2001 habe ich mein Studium beendet.
Das heißt, die Anfänge und Ideen für die Rock Symphonies sind etwa zwanzig Jahre alt?
Es gibt tatsächlich ein Stück von 2001 auf der CD. Es ist das zweite und das habe ich noch in Holland geschrieben. Mein Lehrer sagte damals, es sei ziemlich gewöhnlich. Einige Teile waren sehr expressiv, einige war nicht wirklich tonal, aber sie klangen gut, es gab Rhythmus.
War das Stück seitdem in der Schublade? Haben Sie es niemals dirigiert?
Nein, es ist viele Male gespielt, aber niemals aufgenommen worden. Von der Akademie war das Stück nicht gut aufgenommen worden, aber ich habe es mit verschiedenen Orchestern gespielt. Es gibt auf der einen Seite die Akademie und auf der anderen die reale Welt. Manchmal vergessen wir in der zeitgenössischen Musik das Publikum. Für mich ist es sehr wichtig, aber manche Musiker kümmern sich nicht darum.
Mir hat eine Musikerin gesagt, vielleicht werden wir die zeitgenössische Musik erst in einhundert Jahren verstehen und genießen können. Was halten Sie davon?
Das sehe ich anders. Sicher gab es immer Komponisten, die im Schatten standen. Aber denken Sie an Beethoven, er war ein Star und auch Bach, wenn wir bei deutschen Komponisten bleiben. Ich kann die ganze Nacht Verdi und Puccini hören, Wagner, Strauss – ich denke, die werden auch in einhundert Jahren noch geliebt. Aber die Arbeit von Pierre Boulez, dem französischen Komponisten, der seine Stücke bereits in den 50ern, 60ern komponiert hat, also vor über 70 Jahren, die spielt heute niemand. Ich habe Respekt vor ihm, aber ich glaube, wir brauchen etwas anderes. Wir Komponisten und auch das Publikum brauchen Dynamik.
Was genau möchten Sie Ihrem Publikum mit Ihrer Art von Musik geben?
Ich möchte Gefühle und Energie vermitteln anstelle eines Vakuums, das man hört, und es passiert wirklich gar nichts. Ich möchte genau das Gegenteil tun.
Ich komme noch einmal auf Ligeti zurück. Warum zollen Sie ihm Tribut?
Warum ich Ligeti ausgewählt habe, hat einen anderen Hintergrund. Es ist eine Hommage an ihn. Allerdings nicht in den gleichen Stil wie seine Musik geschrieben ist. Ich möchte mich bei ihm bedanken. Er war für mich ein bedeutender Künstler und ich habe es quasi erlernt, seine Musik zu lieben. Ich hoffe, das klingt verständlich. Es gibt bei mir tatsächlich etwas, das sich genau an seinem Werk anlehnt – die hohen und tiefen Pedale, so wie ich es in meinem Studium gelernt habe, aber der Kontext ist ein anderer. Es sind genau vier Sekunden als Zitat aus dem „Chamber Concerto“ von Ligeti. Ich denke, wir sollte immer das Beste zitieren, wie in dem Film „2001: Odyssee im Weltraum“, in dem auch Musik von Ligeti gespielt wird. Das funktioniert phantastisch – aber oft nur kurz.
Lassen Sie uns über die anderen Stücke auf der CD sprechen – wie sind die zu Ihnen gekommen?
Das „Concerto vedras“ ist ein Stück von 2001, es ist somit das ältestes auf der CD. Ich bin in einem kleinen Ort in der Nähe von Lissabon aufgewachsen. Und dieses Stück spiegelt quasi meine Jugendzeit wieder, all die Probleme, die man beim Heranwachsen hat, Liebeskummer, die Fragen nach dem Sinn des Lebens und welche Rolle man selber spielen möchte. Es ist eine Art Erinnerung an diese Zeit. Das hat mich beim Komponieren inspiriert. Die „Sinfonia Noa Noa“ ist inspiriert worden durch die Werke des französischen Malers Paul Gauguin. Er ist mein Idol. Ich liebe Malerei, ich kann sie in meiner Arbeit fühlen. Wisse Sie was Synästhesie ist? Ich kann Farben hören. Diese Sinfonia hat fünf Sätze und alle lassen sich einem Bild von Gauguin zuordnen. Er war für mich ein beeindruckender Mensch, ein Rebel, der seine Familie verlassen hat, zeitweilig gehungert hat, aber seine Vorstellung von seiner Kunst nicht aufgegeben hat.
Zum Glück hungere ich nicht, aber ich hatte auch schlechte Zeiten, weil ich nicht unterrichtet habe, sondern nur von meinen Kompositionen leben musste und vom Dirigieren, das war manchmal schwierig. Da war Gauguin immer ein Vorbild für mich. Er kam aus dem Bankwesen und hat das alles hinter sich gelassen, als er anfing zu malen.
Danach folgt das Stück mit dem Namen „Todo o Theatro é un Muro Branca de Música“.
Übersetzt heißt das: Jedes Theater ist eine weiße Wand von Musik. Das ist ein Satz des großen portugiesischen Lyrikers Fernando Pessoa. Das Stück ist natürlich im Kontext mit dem Gedicht zu sehen, es ist auch etwas surrealistisch. Theater ist das Leben, somit sagt Pessoa, dass das Leben auch Musik ist. Damit können wir es aufschreiben.
Wir haben über die verschiedenen Sinneswahrnehmungen und Künste gesprochen. Wir hatten bisher einen Komponisten, einen Maler und einen Dichter was kommt noch?
Das letzte Stück ist „Abertura secondo novecento“. Es ist sehr kurz. Ich empfinde es auch als Rock, sehr energiegeladen und intensiv – fortissimo. Es ist ein ironisches Stück. Der Titel ist Italienisch und heißt übersetzt „Die zweite Hälfte des Jahrhunderts“ also von 1950 bis 2000. In dieser Periode war zeitgenössische Musik für mich, aber nicht nur für mich, sehr kristallin und zerstörerisch. Ich meine die klassische neue Musik. Mein Stück ist eine sehr ironische Hommage an diese Zeit. Ich habe tonale Musik, die verboten war, genutzt, genauso wie Rhythmus und Energie, ich habe auch etwas Filmmusik hinzugenommen. Es ist ein Mosaik aus verschiedenen Stilen geworden. Es ist wirklich wahr, in den 60er-Jahren, ich komme wieder auf Pierre Boulez zurück, sagte er, wenn ein Komponist nicht serielle Musik schreibt, ist er ein nutzloser Komponist. Das ist inzwischen Geschichte. Es ist wirklich aggressiv – entweder du komponierst wie vorgeschrieben oder du existierst nicht. Das war speziell in Frankreich die reine Wahrheit. Er war sehr mächtig und ist anerkannt. Sie haben in Berlin den Pierre Boulez Saal. Er war sehr einflussreich, aber ich empfinde das als aggressiv. Mein Stück ist eine ironische Antwort auf all dies und es endet in der Ektase und in D-Dur.
Sie lieben es also, Grenzen zu überschreiten? Aber Sie hatten mit ihrer Rebellion Erfolg – Sie haben viele Preise erhalten.
Ja, einige. Ich möchte frei sein. Manchmal denke ich, die Disziplin zu arbeiten und zu schreiben – diese tägliche Disziplin heißt für mich gleichzeitig auch Freiheit. Das ist quasi paradox, aber für mich gehören diese beiden zusammen. Stellen Sie sich vor, ich schreibe ein Requiem, das möchte ich wirklich sehr gerne machen, dann ist das eine andere Herangehensweise als wenn ich ein Magnifikat schreibe, was ich schon getan habe. Ich muss dann die Disziplin haben, diese unterschiedlichen Formen herauszuarbeiten. Das ist wirklich sehr harte und schwere Arbeit. Der Klang in zeitgenössischer Musik – es tut mir leid – hört sich immer mehr oder weniger gleich an. Wenn man ein Requiem hört ähnelt es auch einem Stück mit Sopran und Orchester oder einem Geigenquartett… es ist mehr oder weniger dasselbe, es verändert sich wenig. Das empfinde ich als falsch.
Wenn Sie so offen gegen die zeitgenössische Klassik vorgehen, haben Sie dann auch Feinde?
Es gibt Menschen, die nicht mit mir einverstanden sind. Das heißt, in bestimmten Kreisen wird meine Musik nicht gespielt. Aber dafür komponiere ich auch nicht. Ich kenne einige Komponisten die das machen. Aber ich schreibe nicht, um in bestimmten Kreisen aufgeführt zu werden, oder um von bestimmten Orchestern gespielt zu werden.
Wie hat sich die Zusammenarbeit mit dem Orchestra Sinfonica di Milano gestaltet? Hat es Ihre Musik geliebt?
Sie sind natürlich Profis. Aber es gibt etwas, das total unterschiedlich ist, nämlich, das was die Musiker denken und lieben und das, was die Organisatoren und Veranstalter wollen. Mich interessiert, was die Musiker mögen und das Publikum natürlich auch. Die Veranstalter leben in einer total anderen Welt, glaube ich. Sie interessieren sich überwiegend für Puccini, Filmmusik und John Williams, aber für zeitgenössische Musik haben sie kein offenes Ohr. Für mich ist das Feedback der Musiker sehr wichtig. Die Zusammenarbeit mit diesem Orchester war sehr gut. Sie haben schon die Premiere der „Sinfonia Noa Noa“ 2018 in Mailand gespielt und so haben wir entschieden, nun auch diese CD gemeinsam aufzunehmen.
Wie sehen Ihre nächsten Projekte aus?
Ich habe gerade die nächste CD produziert. Es geht um drei Instrumentalkonzerte, die in Spanien aufgenommen worden sind. Ein Tuba Concerto, was sehr unüblich ist, wir denken bei einem Instrumentalkonzert nicht unbedingt an die Tuba. Aber es ist ein Instrument, das erstaunliche Dinge machen kann, und dann noch ein Cello Concerto und ein Piano Concerto. Die drei Konzerte werden auf der nächsten CD vereint sein. Aber ich habe sehr viele Dinge im Kopf. Es gibt auch eine große Chor Sinfonie, die ich schon geschrieben habe und die nächstes Jahr uraufgeführt wird. Der Text ist auf Portugiesisch und stammt von Pessoa: die „Oda Maritima“, ein großes Epos mit zwei Chören und einem großen Sinfonieorchester und Solisten und auch einer Gitarre.
Dazu wünsche Ich Ihnen viel Erfolg. Nuno Côrte-Real, haben Sie herzlichen Dank für dieses offene und zugleich sehr unterhaltsame Gespräch.
Titelfoto © Stefan Pieper