Wer sich die endlose Küste gen Osten bewegt, kommt irgendwann in Lettland an. Lettland war in diesem Jahr Gastland des Usedomer Musikfestivals. Und ja: Dieses kleine Land mit einer Kultur, die sich überhaupt nicht leise verhält, ist durch die vielen Veranstaltungen des Festivals „näher“ gekommen, denn viele emotionale Energien wurden bei den musikalischen und menschlichen Begegnungen frei.
Die Atmosphäre von Usedom Ende September und Anfang Oktober tut ihr übriges, um hier den Herbst in seiner ganzen Intensität zu feiern. Tiefes Morgenrot leuchtet über dem Horizont, wenn die Sonne aufgeht. Die See war verblüffend ruhig, ja still in diesen Tagen. In der aufziehenden Dämmerung, die auf den Wasserflächen und im weiten Hinterland der Küste noch allumfassender wirkt, leuchtet es behaglich hinter den Kirchenfenstern der kleinen, weit über die Insel verstreuten Dörfer und Städtchen, die als Spielorte ins Usedomer Musikfestival integriert sind.
Traumgeschichten mit Anschlussfähigkeit an den Pop
Hier machte etwa das junge lettische Jazzquintett „Dream Teller“ erfahrbar, wie lebendig Tradition und musikalische Gegenwart in Lettlands Kultur miteinander verwoben sind – was hierzulande in dieser Dichte kaum vorstellbar ist. Links und rechts vom Altarraum der Kirche im Küstenort Zinnowitz liefern Gitarrist Svens Vilsons und Keyboarder Edgars Cīrulis den harmonischen Rahmen. Hinter dem Altar bilden die drei Sängerinnen zugleich die Perkussion-Gruppe. Der lyrische Traum-Zustand, den die Musik dieser Band entfaltet, ist an jeden avancierten Indiefolkpop anschlussfähig, baut aber auch auf einer verfeinerten Instrumentenbeherrschung, die aus dem Jazz kommt. Hörbar ist bei jedem Ton: Die eigene Kultur mit ihren Melodien und Klangfarben brennt auf der Seele. Die fünf hätten ruhig noch mehr zeigen können, was sie alles improvisatorisch drauf haben. Im Gespräch mit der Sängerin Kristīne Cīrule stellt sich heraus, dass die junge Band von Labelbetreibern und Veranstaltern in dieser Richtung manchmal etwas „gebremst“ wird. Nein, das Gegenteil ist angesagt, hier geht noch mehr! Vielleicht müssen sie einfach häufiger vor deutschem Publikum spielen. Darauf deutete Kristīne Cīrules Beobachtung hin, dass das Konzertpublikum hierzulande besonders aufgeschlossen und verständig ist. Internationale kulturelle Begegnungen, wie sie Usedom ermöglicht, sind halt immer eine Winwin-Situation.
Singing Revolution findet auch in Friedenszeiten statt
Beim Besuch des Usedomer Musikfestivals lässt sich vieles „lernen“. Etwa, dass die lettische Sprache mit ihren merkwürdigen Strichen auf den Buchstaben sogar vom Sanskrit beeinflusst wurde. Vielmehr ins westeuropäische Bewusstsein vorgedrungen ist die elementare gesellschaftliche Bedeutung von Gesang als politisch einflussreicher Kraft in den baltischen Ländern – Stichwort „Singing Revolution“. Der Dirigent und Chorleiter Ints Teterovskis hat im letzten Jahr in Riga einen Riesenchor aus bis zu 30.000 Menschen dirigiert. Zugleich leitet er seit den 1980er Jahren den Chor Balsis, einen der wohl ausstrahlungsmächtigsten Vokalklangkörper im Lande.
Was die jungen Musikerinnen und Musiker in der Stadtkirche von Usedom zu Gehör brachten, sagte dann auch unglaublich viel. Die auf Top-Level durchtrainierten Stimmen taten dabei ihr Übriges. Ältere und zeitgenössische Stücke von Janis Cimze, Valters Kaminskis, Jazepts Vitols, Emilis Melngailis und Eimils Darzins lieferten allein schon durch ihre kraftvollen Crescendi ein beredtes Statement dafür, dass Kultur nicht leise sein darf, wenn es um Humanität geht. Was für ein, hierzulande weitgehend unentdeckter Reichtum tut sich hier auf, mit seinen kühnen Intervallsprünge und rhythmisch vertrackten, oft dialogisch geführten Gesangsstimmen. Aufschlussreiche Hintergrund-Erläuterungen taten ihr übriges: Immer wenn sich Lettland von Fremdherrschaft, sei es vom zaristischen Russland, von Deutschland und zuletzt 1991 von der Sowjetunion befreien konnte, wurden erst mal neue Opernhäuser und Konservatorien gegründet. Eine solche „Wertschätzung der Kultur durch die Politik“ wäre ja auch mal was in unserem Lande….
Überzeugungskraft der leisen Töne
Ein anderer kultureller Botschafter Lettlands ist Valdis Muktupāvels, der bei einer sehr kommunikativen Matinee im Künstleratelier von Otto Niemeyer mit leisen Tönen, aber fundierten Hintergrundinformationen große Überzeugungskraft entfaltete. Wie er die Kokle, eine Art Zither zu spielen weiß, kann man nur als spektakulär bezeichnen. Mit Plektrum, aber manchmal auch mit filigranem Fingerpicking erzeugt sein Spiel diese zarten Texturen, die manchmal an Minimal Music erinnern, oft barock-polyphon strukturiert sind, aber in jedem Moment faszinierend eigenwillig bleiben. Mal greift sein Spiel klangmalerisch das harmonische Zufallsgewoge der Kirchenglocken in einer lettischen Stadt auf. Auch musiziert er auf Bagpipes. Manchmal reicht sogar ein Stück Birkenrinde. Muktupāvels Gesang legt weitere Verbindungslinien offen: Seine Exkurse in den Obertongesang verweisen direkt nach Mittelasien. Wenn sich Musik wirklich um nichts schert, dann sind das ideologische oder politische Grenzen.
Lettische Musik, vor allem im Gesang, soll über weite Distanzen tragen. Dies machte auch das Vokalensemble Saucējas deutlich, deren Darbietung die älteste Kirche auf Usedom nahe dem Örtchen Liepe, umgeben von einer lauschig verwilderten Gartenlandschaft, in einen besonderen Ort verwandelte. Im Gegensatz zum Balsis-Jugendchor fokussieren sich die Saucējas-Sängerinnen unter Leitung von Iveta Tāle auf oral überliefertes Material, aber dessen musikalische Raffinesse steht der komponierten Musik aus Lettland in keiner Weise nach. Ja, für westliche Ohren klingt das alles oft schon ganz schön „abgefahren“ und bleibt doch fröhlich und zugänglich dabei. Typisches Merkmal sind die Reibungen im Sekundabstand. Aber die Mehrstimmigkeit wird manchmal noch abenteuerlicher, etwa, wenn eine polytonale Stimmvielfalt aufkommt, an der auch Strawinsky viel Spaß gehabt hätte.
Man sollte mal statistisch erheben, auf wie viele Menschen der Gesamtbevölkerung dieses Landes wie viele Komponisten kommen. Zu diesem sicher beachtlich hohen Prozentsatz gehören auch Johann Gottfried Müthel, Marģeris Zariņš, Jānis Mediņš und der junge Dace Aperans, deren Schöpfungen ein hochmotiviertes Duo zu Gehör brachte. Die älteren und neueren Werke für Oboe (Egils Upatnieks) und Orgel (Vita Kalnciem) sind alle irgendwie von Bach inspiriert. Noch mehr strömte der Atem Lettlands aus dieser Musik, für die die vorherigen Konzerte schon einiges an Gehörbildung geleistet hatten.
Die Evangelische Kirche von Heringsdorf liegt auf der höchsten Erhebung des trubeligen Seebadeortes, so dass man auch beim Heraustreten aus der Kirche die Ostsee erblicken kann. Als besonderen Ankerpunkt beauftragt das Usedomer Musikfestival alljährlich ein Spitzenensemble der Kammermusik, um hier am 3. Oktober zum Festtagskonzert zurDeutschen Einheit aufzuspielen. Das fabelhafte RIX-Pianoquartett aus Riga bot hier alles auf, was denkbar ist in Sachen expressivem Schwergewicht. Noch gut durchatmen konnte man in der lässig-luftigen Diktion von Selga Mences Klavierquartett aus dem Jahr 2015. Danach trieb ein Werk von Tālivaldis Ķeniņš die Spannung auf einen Höchstlevel mit seiner vibrierenden Mischung aus kühner, manchmal düsterer Moderne, die manchmal an Messiaen erinnerte, aber auch einer ausgeprägten tänzerischen Exstase, in der auch wieder die Leidenschaft der lettischen Musiktradition zum Ausdruck kommt.
Wie man das alles noch steigern kann? Johannes Brahms hat sein ganzes Leben lang mit sich gerungen, um vorhandene Dimensionen weiter auszudehnen. Wie ein Fazit über alles, was in diesen fünf Tagen des Besuches beim Usedomer Musikfestival den Horizont weitete, interpretierte das RIX Piano Quartett mit beflügelndem Temperament und traumwandlerischer Präzision dessen mächtiges, drittes Klavierquartett, in dem jeder einzelne Satz schon ein geschlossenes Meisterwerk für sich bildet.
Konzert trifft auf Diskurs
Konzert geht mit Diskurs einher auf Usedom. Wie hat sich Musikgeschichte in den jeweiligen Gastländern abgespielt und welche großen Komponisten spielten entscheidende Rollen? Solchen Themen widmet sich alljährlich ein prominent besetztes Abend-Symposium. Wenn von der lettischen Hauptstadt Riga die Rede ist, rückt schnell der Name Richard Wagner in den Fokus. Dieser wirkte vorübergehend in Lettlands Hauptstadt – was prägend genug war, dass hieraus erste Konzepte für sein späteres Bayreuther Operntheater entstanden. Der Usedomer „Wagner-Salon“ in einem Konferenz-Saal des Steigenberger Hotels in Heringsdorf thematisierte die kulturelle Wirklichkeit dieses Ortes heute, der – unter anderem ausgestattet mit reichlich Förderung auch aus Deutschland – zu einem neuen Kulturort für die Zukunft ertüchtigt werden soll, in dem etwa die Kremarata Baltica eine Heimat finden soll. Die u.a. eingeladene Katharina Wagner, Intendantin der Bayreuther-Festspiele und Urenkel des Komponisten, äußerte ihre eigene Vision, was Riga heute braucht: Eben keinen Erinnerungsort, sondern eine lebendige Kulturstädte für die Zukunft. Sie selbst hat ja auch schon eigene Erfahrungen in Lettland gemacht, wo sie sich über die hohe Publikumsauslastung bei Opernaufführungen freut. Erfreuliche Beobachtung am Rande: In Riga füllt deutlich mehr junges Publikum die Ränge.