Einfach Klassik.

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Baltic Sea Philharmonic spielte Babylon Berlin

Orchestergraben hat schon mehrfach dokumentiert, wie sich das „Baltic Sea Philharmonic“ unter Kristjan Järvis Leitung als „Marke“ in Sachen Revolutionierung des Konzertbetriebs positioniert. Gerade wurde bei dieser „Band, die mit Orchesterinstrumenten spielt“ (Kristjan Järvi) die nächste Stufe beim Aufstieg in den Musikhimmel der Zukunft gezündet.

Das vibrierende Show-Potenzial der Musikerinnen und Musikern und ihres nimmermüden Leaders wurde jetzt für ein besonderes künstlerischen Sujet funktionalisiert: Auf drei Gala-Vorstellungen präsentierte das Baltic Sea Philharmonic eine schillernde Konzertrevue zur Erfolgsserie „Babylon Berlin“. Was natürlich auf der Hand lag, eben weil Kristjan Järvi (zusammen mit Tom Tykwer und Johnny Klimek) an sämtlichen Filmmusiken der Serie beteiligt ist. Pünktlich zum Start der vierten Staffel im TV ist auch ein Mitschnitt des Premierenabends in der ARD-Mediathek abrufbar. Ich habe die Veranstaltung anhand dieses Mitschnitts beschrieben. 

Baltic Sea Philharmonic, Foto © Paul Gärtner / Sunbeam PG
Baltic Sea Philharmonic, Foto © Paul Gärtner / Sunbeam PG

Was sich im Berliner Theater des Westens abspielte, war eine kraftvolle, auf die Livebühne gebrachte Inkarnation der ganzen düster-morbiden, dekadent lustvollen, oft verstörend wiedersprüchlichen Stimmungswelt, mit der „Babylon Berlin“ die Zeitgeschichte zwischen den ausgehenden 1920 und beginnenden 1930er Jahre fühlbar und damit verstehbar macht. Die Musikerinnen und Musiker sind auf zwei Etagen der Bühne verteilt. Und ja: alle Bandmitglieder aus Dänemark, Estland, Finnland, Deutschland, Lettland, Litauen, Norwegen, Polen, Russland und Schweden lassen, angefeuert von ihrem Bandleader auf Anhieb die Luft brennen.

Es wirkt eine Mixtur aus treibenden Rockelementen, sphärisch-melancholischen Minimal-Music-Lyrismen, cineastischem Breitwand-Bombast, ebenso wie aufreizend swingende jazzige Parts an Charleston und co erinnern und einschlägige Leitmotive aus den Filmsoundtracks in den emotionalen Sog von „Babylon Berlin“ hinein ziehen. All das appelliert an den heutigen Hör-Horizont. Und genau das ist der springende Punkt: Kristjan Järvi und das Baltic Sea bleiben, ebenso wie Babylon Berlin im Ganzen, nicht in irgendeiner wohlfeilen nostalgischen Aufpolierei stecken, sondern holen ihr Publikum im Heute ab. Wenn sich das, hier auf etwa 50 Mitglieder „reduzierte“ Orchester, mit seinem Sound in alle verführerischen Dimensionen hochschraubt, sind die Musikerinnen und Musiker auch schön anzusehen dabei. Die befreite Choreografie aller Beteiligten wirkt deswegen so vortrefflich, weil Notenständer beim Baltic Sea Philharmonic schon lange eine Sache von vorvorgestern sind. Mit genug morbidem Glamour wurden im Berliner Theater des Westens die einschlägigen Stücke aus der Serie abgefeiert – natürlich das mysteriöse „Zu Asche, zu Staub“, welches in jazzigem Offbeat-Groove Natalia Mateo und Christina Russo zu Gehör bringen.

Max Raabe, Kristian Järvi, Foto © Paul Gärtner / Sunbeam PG
Max Raabe, Kristian Järvi, Foto © Paul Gärtner / Sunbeam PG

In fast technomäßigen Beat bilden Meret Becker und Sabin Tambrea ein Duo in einem gespenstisch lasziven „Elsa Mechanik“, dessen Lyrics wie ein Manifest wirken: „Den Körper befreien, vom Geist, ganz allein, Venen unter Strom, Arterien aus Chrom, Mein neues Selbst sei frei.“Aus vielen einschlägige Chancons und Liedern dieser, zum Beispiel „Ein Tag wie Gold“ spricht vor allem Lebenshunger. Meret Becker gibt – chamöleonhaft wandelbar – alles, darstellerisch und auch stimmlich und spielt auch mal ein Solo auf einer singenden Säge. Chansonnier Max Raabe steht dem mit generöser Präsenz in keinem Moment nach. Järvi ist in allen Momenten mitten drin in dem von ihm intendierten ganzheitlichen sozialen Geflecht beim Musikmachen. Babylon Berlin macht Lust auf Geschichte, zieht oft erschütternd, aber immer auf maximalem Spannungslevel in die Abgründe, aber auch die Lebenslust dieser schicksalsschweren Zeit hinein. Und alle diese Regungen zelebrierte, ja feierte „Babylon Berlin in Concert“ – so aufreizend kann der Tanz auf dem Vulkan sein kann!

Titelfoto © Paul Gärtner / Sunbeam PG

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Musik und Schreiben sind immer schon ein Teil von mir gewesen. Cellospiel und eine gewisse Erfahrung in Jugendorchestern prägten – unter vielem anderen – meine Sozialisation. Auf die Dauer hat sich das Musik-Erleben quer durch alle Genres verselbständigt. Neugier treibt mich an – und der weite Horizont ist mir viel lieber als die engmaschige Spezialisierung, deswegen bin ich dem freien Journalismus verfallen. Mein Interessenspektrum: Interessante Menschen und ihre Geschichten „hinter“ der Musik. Kulturschaffende, die sich etwas trauen. Künstlerische Projekte, die über Tellerränder blicken. Labels, die sich für Repertoire-Neuentdeckungen stark machen. Mein Arbeitsideal: Dies alles fürs Publikum entdeckbar zu machen.
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