Das Attribut „Chaos“ mag bei diesem Streichquartett zu Irritationen führen. Denn die künstlerische Aussagekraft der Debüt-CD der vier Musikerinnen und Musiker vom Chaos String Quartet aus mehreren europäischen Ländern zeugt von einem bestechenden Maß an Fokussiertheit, um damit in höhere Zustände musikalischer Klarheit, ja Erleuchtung abzuheben. Susanne Schäffer und Eszter Kruchió (Violinen), Sara Marzadori (Viola) und Bas Jongen am Cello zählen übrigens auch den ARD-Wettbewerb zu einer wichtigen Station ihrer jungen Karriere. Die vier definieren „Chaos“ vor allem als Urzustand, in dem alles offen ist, so dass daraus geschöpft werden kann, um das Wahre, Echte freizulegen. So ungefähr könnte man die Gedanken interpretieren, welche die vier ihrer Hörschaft im Booklettext mit auf den Weg geben.
Tiefe Reflexion, disziplinierte Arbeit und gegenseitiger Konsens tragen auf dieser Aufnahme hörbar reiche Früchte. Das Streichquartett in f-Moll, Opus 20, Nr. 5 von Joseph Haydn ist ein reiches Werk, in dem es viel Klarheit zu finden und zu artikulieren gibt. Es gehört zwar zur Werkgruppe der sogenannten „Sonnenquartette“. Aber nicht falsch vestehen: Der Gestus ist keineswegs sonnig, denn viele ungewöhnliche Ausdrucksnuancen lassen es auch immer mal finster am Firmament werden. So wirkt es zumindest, wie das Chaos-Quartett hier mit drängendem Ausdruck und höchst beweglich durch die verschiedenen Stimmungen und Emotionen navigiert. Das Highlight ist hier auf jeden Fall das Finale, eine raffinierte Fuge mit zwei Themen, in der sich Bachs kontrapunktische Genialität mit Haydns Innovationsgeist spektakulär synchronisiert. Dass es sich genau so anhört, liegt an der Überzeugungskraft im Spiel des Chaos String Quartet.

Aufbegehren gegen verordnete Gefälligkeit
Moderne Musik wird von vielen, die sie nicht verstehen oder gar politisch bekämpfen, als „Chaos“ bezeichnet. Auch Györgi Ligeti bekam die Unterdrückung von freier Kultur durch ein totalitäres Regime zu spüren. Dass sein geniales erstes Streichquartett Zeit seines Lebens tatsächlich in der Schublade verblieb, hat vielleicht auch etwas mit Resignation zu tun. Großes Kompliment also ans Chaos String Quartet, dieses aufrührerische Meisterwerk jetzt in die Mitte ihres CD-Programms zu stellen! Dramatischer und mit noch mehr Bildkraft aufgeladen lässt sich wohl kaum jede Oberfläche eines verordneten naiven Realismus in Stücke reißen, als in diesem Werk. Dem auf dieser Aufnahme sich offenbarenden Anliegen einer reflektierten strukturellen Wahrheitssuche in der Musik kommt Ligetis Streichquartett Nr. 1 ebenfalls mit Wucht entgegen. Unter dem Etikett „Métamorphoses nocturnes“ zentriert sich eine Folge von Charaktervariationen um einen motivischen Kern herum. Ausgeprägte Chromatik sorgt für spannungsgeladene Atmosphäre und trägt entsprechend bedrohliche Farben auf. Elegische, fast erstarrende Momente sind meist die Ruhe vor dem Sturm, wo sich die Spannung brachial entlädt – unter Einsatz aller spielerischen Kraft, die mit Bögen auf Saiten möglich sind.
Man möchte aufspringen und nach Zugaben rufen
Die Auseinandersetzung mit musikalischer Moderne wirkt sich auch auf „ältere“ Musik fruchtbars – am besten wird die Musik des ewigen 19. Jahrhunderts von jenen gespielt, die selbst eben nicht im 19. Jahrhundert stehen geblieben sind, dies demonstriert das Chaos String Quartet mit seiner Debut-CD einmal mehr: Nach der fordernden Grenzerfahrung bei Ligety, darf Fanny Mendelssohns Streichquartett Es-Dur umso befreiter im Heute aufstrahlen und seinen lyrischen Atem ausbreiten. Oft mag dieses Werk in seinem Expansionsdrang an den späten Beethoven erinnern. Zugleich zeigt die Tonsprache der Schwester von Felix Mendelssohn Bartholdy viele Wege auf, die schon auf Richard Wagner oder Franz Liszt verweisen. Das Chaos String Quartett sorgt dafür, dass dieses unruhige und spannungsvolle Werk mit seinen schwärmerischen Höhenflügen, seinen innigen Emotionen und seiner versiegenden Eloquenz auch beim häuslichen Hören in ein imaginäres Konzert hinein versetzt, an dessen Ende man aufspringen und nach Zugaben rufen möchte.
Titelfoto © Andrej Grilc