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Einfach Klassik.

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CD-Review: Elena Margolina & Boris Hait – Tod, Trauer und Trost

Die Pianistin Elena Margolina und ihr Lebenspartner, der Palliativmediziner Boris Hait befinden sich seit einem Jahr in Trauer. Vor genau 365 Tagen erfolgte der russische Überfall auf die Ukraine. Beide stammen aus dem ukrainischen, für seine reiche Musikkultur berühmten Lemberg/Lwiw. Sie haben viel nahen Kontakt zu Menschen vor Ort und deren akuter Situation. Auch leben zwei Jugendliche bei ihnen, die alleine auf sich gestellt, vor Bomben und Zerstörung geflohen sind. Diese Fakten sind bedeutsam, da sie den Entstehungsprozess für das neue Album „Tod, Trauer und Trost“ maßgeblich beeinflusst haben. Eines schon mal vorweg: „Diese CD ist keine „normale“ Produktion des ARS-Labels. Die Aufnahme, die in der Wuppertaler Immanuelskirche stattfand, ist als reines Benefiz-Projekt angelegt. Das Label hat hier auf sein Honorar verzichtet, so dass der Verkaufserlös komplett verschiedenen Hilfsprojekten zu Gute kommt. 

Elena Margolina – Über die Vergänglichkeit des Lebens 

Tod als Abschied, Sterben als Übergang. Das große Leiden, das für diejenigen, die bleiben und weniger für den, der geht, übermächtig wird. Oder das Bewusstsein des eigenen Ablebens, das auch der selbst Betroffene im Bewusstsein darüber würdevoll begehen kann – vielleicht so, wie der berühmte Schwan, der seinen schönsten Gesang erklingen lässt, wenn er sein Ende nahen sieht. Abschiednehmen ist schmerzhaft, aber in den Gefühlen wohnt Zärtlichkeit inne. Das Leben ist vergänglich wie ein kurzer Lichtschein zwischen den dunklen, nie ergründbaren Sphären der Ewigkeit. 

Cover

Für all dies und noch viel mehr gibt es hier Worte, Sätze, Gedanken, Metaphern und Bilder – geschrieben etwa von Vladimir Nabokov, Dientrich Bonhoeffer, Rainer Maria Rilke, Joseph Roth, Leo Tolstoi, Joachim Ringelnatz oder Erich Fried. Der Sprachfluss und die Stimme von Boris Hait, der die Texte vorträgt, verbreiten eine tiefe Ruhe und geben emotionalen Halt, wenn es an die Außengrenzen des menschlichen Lebens geht, wie es für Boris Hait als einfühlsamer Begleiter von sterbenden Menschen und ihrer Angehöriger Berufsalltag ist. Auch eine eindringliche Momentaufnahme daraus hat den Weg auf diese CD gefunden und ja – erschütternd aktuell wirkt ein Text über das Sterben im Krieg. 

Worte und Musik in tiefer Verbindung 

Alldas geht eine Symbiose mit der Klaviermusik von Elena Margolina ein, was oft emotional überwältigend wirkt, vor allem, wenn die gesprochenen Texte direkt mit der Musik unterlegt sind. Elena Margolinas ausgesprochen „ehrlich“ wirkendes Klavierspiel, ebenso die für dieses Unterfangen sehr durchdacht getroffene Repertoire-Auswahl, widerspiegeln einen tief emotionalen künstlerischen Blick dieser Pianistin.

Bach-Transkriptionen aus einem Oboenkonzert und einer Violinsonate von Bach wirken – obschon eher romantisch als sakral-streng angegangen – wie ein friedliches Gebet, was sich in einer Sarabande aus der Französischen Suite weiter verdichtet. Wenn sich dann Franz Schubert – einer der wichtigsten künstlerischen Wesenskerne von Elena Margolina – Gehör verschafft, muss dies zwangsläufig auf einen Höhepunkt im Programm hinaus laufen: Das Andantino aus Franz Schuberts Sonate D 959 legt Elena Margolinas ganze Gabe offen, bei respektvoller Kontrolle des Formalen ein Maximum an emotionaler Überwältigung freizusetzen: Da schleppt sich die Musik erst im Tal der Tränen dahin, bevor ein kraftvoll auftrumpfendes Crescendo das Tor zu etwas Höherem öffnet. Unterlegt ist das Stück teilweise von Josef Haits Rezitation von Joseph von Eichendorfs Gedicht „Mondnacht“ und den „letzten Worten“ von Annette von Droste Hülshoff. 

Die ukrainische Kultur lebt! 

Es wäre keine CD des ARS-Labels, wenn es unter den insgesamt 23 Nummern dieses Programms nicht auch viele Neuerkundungen gebe: Und da kommt die reiche kulturelle Historie und Gegenwart der Ukraine mächtig in Spiel – in Texten von Taras Schewtschenko, Iwan Franko, Lessja Ukrajinka, Hrytsko Tschuprynka und Wolodymir Swidsinskyj ebenso in Kompositionen von Mykola Lyssenko, Myroslaw Skoryk und Sergej Bortkiewicz. Wie nie zuvor dringt seit einem Jahr die Besinnung ukrainischer Menschen auf ihre eigene, einflussreiche, weltoffene Kultur nach draußen. Das zumindest ist schon mal ein positiver Effekt und genau das Gegenteil der absurden Begehrlichkeiten eines Herrn Putin. „Die entmenschlichende, aufhetzende Rhetorik des russischen Staates benutzt Begriffe wie „Entukrainisierung“, um die historischen Wurzeln dieses Volkes, seine Sprache und seine Kultur zu verhöhnen, zu negieren und zu pervertieren. Daher fühlen wir uns verpflichtet, die Schönheit und Schätze der ukrainischen Kultur in Wort und Klang lebendig zu erhalten“ formulieren Elena Margolina und Boris Hait ihr Anliegen im Booklet-Text. 

Aber die beiden haben hier darüber hinaus noch etwas Allgemeingültigeres geschaffen: Tod hat auch immer mit Leben zu tun. Die geistigen und emotionalen Perspektiven, zu denen dieses intime Gesamtkunstwerk ermutigt, transportieren deutlich mehr Hoffnung, als es die aktuelle Weltlage leider gerade hergibt.

Das Album

Icon Autor lg
Musik und Schreiben sind immer schon ein Teil von mir gewesen. Cellospiel und eine gewisse Erfahrung in Jugendorchestern prägten – unter vielem anderen – meine Sozialisation. Auf die Dauer hat sich das Musik-Erleben quer durch alle Genres verselbständigt. Neugier treibt mich an – und der weite Horizont ist mir viel lieber als die engmaschige Spezialisierung, deswegen bin ich dem freien Journalismus verfallen. Mein Interessenspektrum: Interessante Menschen und ihre Geschichten „hinter“ der Musik. Kulturschaffende, die sich etwas trauen. Künstlerische Projekte, die über Tellerränder blicken. Labels, die sich für Repertoire-Neuentdeckungen stark machen. Mein Arbeitsideal: Dies alles fürs Publikum entdeckbar zu machen.
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