Ich kann mich noch gut an das Jahr 1995 erinnern, als wäre es gestern gewesen. Damals war ich als junger Radiojournalist sehr viel unterwegs, führte Interviews, besuchte ständig Konzerte und lernte Land und Leute kennen. In Sachen klassischer Musik war ich immer auf der Suche nach dem Besonderen, dem Kontroversen, dem nicht Alltäglichen. So las ich in einer damals gängigen „Fachzeitung“, dass Ivo Pogorelich ein neues Album veröffentlicht hatte. Es war eine Art Mozart-Sampler mit unterschiedlichen Klaviersonaten KV 283 und KV 331 sowie der Fantasie KV 397.
Ivo Pogorelich – Eigenwilliges Spiel
Die Rezension war allerdings ein Nackenschlag. Der sogenannte „Experte“ (einen Begriff den ich ebenso wenig mag wie „Historiker“, da es sich nicht um geschützte Berufsbezeichnungen handelt, und jeder Laie sich so nennen darf) zerriss dieses Album in der Luft. Wie konnte es Pogorelich nur wagen, Mozart so zu spielen? Eigenwillig, sich nicht an Tempovorgaben haltend….unmusikalisch…das waren noch die schmeichelhaftesten Bezeichnungen. Heute würde man in der modernen Sprache von einem „Shitstorm“ reden, der fürwahr unkontrolliert über Pogorelich hereinbrach. Aber wie hätte er denn sonst spielen sollen? So wie alle anderen, oder um Erwartungen irgendwelcher Musikkritiker zu erfüllen?
Pogorelich, das einstige Wunderkind mit Sportschuhen an den Füßen und Kapuzenpulli bekleidet, entsprach noch nie der Norm eines klassischen Pianisten. Er überwarf sich sogar um 1986 mit Karajan, dessen Vorstellungen der Umsetzung des 1. Klavierkonzerts in b-moll von Tchaikovsky nicht den Vorstellungen von Pogorelich entsprachen (beide spielten in völlig unterschiedlichen Tempi und Karajan verließ wütend den Saal).
Ich muss zugeben…damals hielt ich nicht viel von Mozart. Hatte nicht schon Glenn Gould einmal über den Salzburger Komponisten gesagt, dass dieser eher zu spät als zu früh gestorben sei? Bis auf „Don Giovanni“ konnte ich mit seinen Opern nichts anfangen. Die „Zauberflöte“ hielt ich für infantil und die „Entführung aus dem Serail“ für zu altbacken. Als eingefleischter Wagnerianer bevorzugte ich eher den „Ring des Nibelungen“, den „Tannhäuser“ und „Rienzi“. Daneben wurden nur veristische Opern wie „Pagliacci“ oder „Cavalleria Rusticana“ geduldet. Und bei sinfonischer Musik oder Klavier-Sonaten war Beethoven mein absoluter Favorit.
Aber dann kam Pogorelich mit seinem Mozart-Album. Die miserablen Besprechungen hatten mein Interesse daran erst recht geweckt. Ich war gerade in Düsseldorf unterwegs und ging in den nächsten Schallplattenladen (so etwas gab es damals tatsächlich mal), um mir das Album anzuhören. Bereits nach den ersten Takten des Andante der Fantasie KV 397 wusste ich, dass hier ein Genie zu Werke gegangen war. So kann Mozart klingen?
Türöffner
Dieses Mozart/Pogorelich-Album unter allen Klassik-CDs im heimischen Archiv ist und bleibt mein Lieblingsstück. Pogorelichs Spiel der Sonaten ist nicht von dieser Welt. Virtuos allein wäre als Bezeichnung nicht ausreichend. Für mich öffnete sich mit diesem Werk die Tür zu Mozarts Reich. Als er die Fantasie schrieb, hatte er sich gerade von den Salzburger Fesseln befreit und lebte bereits seit einem Jahr in Wien. Und in der Tat klingt dieses Stück auch wie eine Befreiung. Ich wurde befreit von meinem Vorurteil Mozart gegenüber und Pogorelich vom damals üblichen Klassik-Zirkus mit seinen starren Intoleranzen.
Neben Pogorelichs Spiel begeistert mich auch nach wie vor der Klang dieser CD. Obwohl schon 26 Jahre alt, ist die Aufnahme klar, transparent und dynamisch. Ich besitze das Album sogar zweimal. Einmal die Original-CD und dann als Bestandteil der Box „Complete Recordings“. Beide Veröffentlichungen kann ich wärmstens empfehlen. Die Original-CD wird man wahrscheinlich mit viel Glück auf Trödelmärkten oder alternativ auf Second-Hand Plattformen finden. Die Suche danach lohnt sich aber auf jeden Fall.