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Einfach Klassik.

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Ereignisreicher Start beim Usedomer Musikfestival 2022

Ein Gastbeitrag von Ekkehard Ochs

Wer Ortschaft und ehemaligen Industriestandort Peenemünde auf der Ostseeinsel Usedom mit dem V-Waffen-Programm des „Dritten Reiches“ in engste Verbindung bringt, liegt goldrichtig. Das tut aber auch der, dem der gleiche Ort mit seit nunmehr 20 Jahren maßstabsetzenden und eine verbrecherische Geschichte bewusst humanistisch konterkarierenden Großkonzerten wichtig ist. Denn Peenemünde bildete und bildet meist Anfangs- und Endpunkte des jährlichen Usedomer Musikfestivals und damit künstlerisch wie musikkulturell markante  Positionen einer bemerkenswerten Erfolgsgeschichte. So auch in diesem Jahr, wo kürzlich das vom Usedomer Musikfestival gegründete und hier schon Hausrecht genießende Baltic Sea Philharmonic unter Kristjan Järvi den 29. Jahrgang dieses Festivals eröffnete. Insider waren vorgewarnt. Denn Järvi liebt das Unorthodoxe: also kein „Konzert“, eher eine Performance, er selbst weniger Dirigent denn Entertainer, kein „Programm“, dafür ein 90-minütiger „durchkomponierter“ Abend ohne jede Pause. Järvi greift sich geeignet erscheinende Werke, arrangiert einige von ihnen, lässt sich selbst Übergänge einfallen und verbindet alles zu einem oft auch thematisch orientierten „Gesamtkunstwerk“;  Farblichtsspiele, Dampf, szenische Komponenten, Wanderbewegungen des generell auswendig spielenden Orchesters (!) eingeschlossen. Da sind einige Originalzitate Järvis aus dem Festival-Magazin aufschlussreich. „Innovation ohne Risiko ist nicht möglich.“ Oder: „Als Orchester müssen wir uns fragen, wozu wir hier sind. Es muss darum gehen, etwas zu schaffen, aufzubauen, zu inspirieren und zu erneuern…Es geht um die Vision.“

Baltic Sea Philharmonic
Baltic Sea Philharmonic

Auch der Adressat, der Hörer, wird einbezogen: „Das Publikum soll das Gefühl haben, dass es plötzlich in eine neue Dimension eintritt.“ Das alles findet sich tatsächlich in den Konzertauftritten, die schon mal an grandiose Spektakel erinnern, wieder und ist so originell wie faszinierend. Es darf allerdings auch hinterfragt werden, wenn sich, wie diesmal geschehen, die einbezogenen Werke von Sibelius (Ascending swans), Jaan Rääts (Konzert für Kammerorchester op. 16, 1. Satz), Eduard Tubin (Setu tants) , Liis Jürgens (mit ihrem fesselnd rituellen, donnernd schamanenhaften The dream of Tabu-tabu) und Tschaikowski – seine „Nussknacker“- Musik als von Järvi umgewandelte „dramatische Sinfonie“ – oft in Gestalt und Abfolge nur noch schwer oder gar nicht voneinander unterscheiden lassen. Gleichwohl ist das Ganze perfekt gemacht. Es gibt eine tragfähige Idee, Järvi arrangiert und komponiert absolut professionell und hat mit „seinem“ jugendlichen (Ostsee-)Orchester einen Klangkörper geformt, der höchsten Standard verkörpert. Vor allem aber: ihm eignet eine Musizierbesessenheit und eine künstlerische Gestaltungskraft, die von geradezu elektrisierender Wirkung sind. Da wird – eine Tatsache, der sich der Rezensent eigentlich erstmals gegenüber sieht – das WIE eines Konzertabends fast wichtiger als das WAS! Spannend! Eine Gratwanderung mit produktivem Potenzial. In jedem Falle aber ein musikalisch beeindruckendes Erlebnis! Und mit drei Werken Beispiele für das diesjährige Festivalmotto: ESTLAND!

Ivari Ilja
Ivari Ilja

Ging es dabei naturgemäß relativ klangvoluminös, kraftvoll und laut zu, konnten sich Usedoms Festivalfreunde kurze Zeit später ganz klavieristischer „Stille“ hingeben. Für sie stand Ivari Ilja, einer der bedeutendsten Konzertpianisten Estlands. Derzeit ist er Rektor der Estnischen Akademie für Musik und Theater in Tallin. Souverän sein Spiel in der Kirche zu Krummin, und so abwechslungsreich wie musikalisch informativ sein Programm. Länderthemen, wie sie das Usedomer Musikfestival von Beginn an als Alleinstellungsmerkmal präsentiert, haben den großen Vorteil, Kunstgenuss mit Kenntniserweiterung und -gewinn engstens zu verbinden, zumeist große Kenntnislücken schließen zu helfen und teils neue Kunsterfahrungen zu ermöglichen. Ivari Ilja trug mit Werken von Eduard Oja, Eduard Tubin, Ester Mäge und Tönu Körvits entschieden dazu bei. Auch wenn viele Beispiele in recht gemäßigt moderner Tonsprache einer eher „stillen“, oft versonnenen, auch impressionistisch bildhaften oder verinnerlicht meditativen Stimmung den Vorzug gaben – ohne auf Kraftvolles und stilistisch gelegentlich unorthodoxere Klangsprachen zu verzichten. Dass Ilja auch Chopin kann – u.a. h-moll-Sonate – sei hier nur vermerkt.

David Geringas
David Geringas

Wer kennt ihn nicht, den Meistercellisten David Geringas. Auf Usedom gehört er einfach dazu; als Konzertgeber und Leiter eines Cello-Meisterkurses, der als „Ostsee-Musikforum“ stets hohe Anziehungskraft entwickelt. Dazu die Eröffnung mit Thomas Albertus Irnberger (Klavier), Pavel Kašpar (Violine) und Geringas selbst. Mit Werken von Martinu (Bergerettes für Klaviertrio) , Suk (c-Moll-Klaviertrio op. 2) und den Esten Erkki-Sven Tüür (Fata morgana“ für Cello und Klavier, 2002), Eduard Oja (Trilogie der Zeit, gleiche Besetzung, 1934) und Lepo Sumera (Quasi improvisata, 1987). Auch dies vor vollem Haus auf Schloss Stolpe  und erneut vor einem Publikum,  das in schöner Unvoreingenommenheit alle Stile zwischen spätromantisch-nationaler, auch mal derber Klangsinnlichkeit und sehr individuell geprägter, moderne Spielpraktiken einbeziehender Tonsprache begeistert akzeptiert. Auch dann, wenn den Akteuren im schmalen, langgezogenen Saal schon mal das Gefühl für die Angemessenheit von Lautstärke verloren zu sein scheint und der sehr musikantische, teils ungezügelte Zugriff wünschenswerte Differenzierungen streckenweise einebnet. Das kann bei einem stilistisch so vielfältigen Programm durchaus Substanzverlust bedeuten. Andererseits hat solcherart musikantisch intendierte Direktheit zumindest für einen Teil des Publikums auch offensichtliche Vorteile. Der Beifall war jedenfalls – wie immer – überaus herzlich und heftig. Fazit: Erste, hier nur in Auswahl vorgestellte, vielversprechende Tage des Usedomer Musikfestivals. Zwei weitere Wochen dürften kaum weniger ereignisreich verlaufen.

Titelfoto © Geert Maciejewski

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