Ein Gastbeitrag von Ekkehard Ochs
1790 konnte man im 1. Band des berühmten „Historisch-Biographischen Lexicons der Tonkünstler“ von Ernst Ludwig Gerber von einem „berühmten Capellmeister zu Danzig“ lesen, der „unter die würdigsten Componisten seiner Zeit“ zu rechnen sei. Gemeint ist Johann Valentin Meder. Gerbers Artikel bezieht sich darin auf ein rund 50 Jahre älteres Urteil, nämlich auf das des berühmten Hamburgers Johann Mattheson in seiner „Grundlage einer Ehren-Pforte“ von 1740. Und noch 1837 berücksichtigt ihn der hierbei wiederum ganz auf Gerber und Mattheson fußende Gustav Schilling im 4. Band seiner berühmten „Encyclopädie der gesammten musikalischen Wissenschaften oder Universal-Lexikon der Tonkunst…“. Will heißen – und deshalb diese Einleitung – : Gerber und Schilling nennen diesen Sänger und Komponisten Meder zu Zeiten, in denen er längst keinerlei Rolle mehr spielte und eigentlich vergessen war. Aber wohl nur Mattheson besaß diverse Noten von ihm. Er wusste also, wovon er in seinem so lobenden Urteil sprach. Seit wenigen Tagen wissen es auch die Besucher jenes Konzertes, zu dem das Usedomer Musikfestival und das Goldberg Baroque Ensemble in die Kirche St. Marien der Stadt Usedom (auf Usedom) geladen hatte.
Und man darf sagen: Dies war ein Ereignis von außerordentlicher künstlerischer Bedeutung, hohem Erkenntniswert und voller wohlklinghendem Balsam für Ohr und Seele! Und zu verdanken war das alles einem Mann, der 1649 in Wasungen (heutiges Thüringen) geboren wurde, den es – wie andere Mitteldeutsche auch – in den Norden zog, und der nach unstetem Leben und wichtigen Stationen in Reval (heute Estlands Hauptstadt Tallin, ab 1674), Riga (um 1684-86), Danzig (ab 1687) und nochmals Riga (ab 1699) dort auch 1719 verstarb. Dies und mehr war gut zu wissen und im Übrigen auch Gegenstand eines Vortrags von Anu Schaper (Estland), ehe man sich in Usedoms Stadtkirche der Musik dieses Meisters hingab. Und da der Abend ausschließlich ihm gewidmet war, gab es reichlich Gelegenheit dem Goldberg Baroque Ensemble genau zuzuhören, ausführlicher und vertiefter gedanklicher Beschäftigung mit der wahrlich erstaunlichen Musik einer bemerkenswerten Komponistenpersönlichkeit.
Acht teils großbesetzte vokal-instrumentale geistliche Stücke standen auf dem Programm, Werke von sehr unterschiedlichem Umfang, alle aber kontrastreich gegliedert im Wechsel von Instrumentalritornellen, Rezitativen, Arien, Soli, Duetten, Terzetten und vierstimmigen Chorsätzen. Meder erreicht damit nicht nur fesselnde Lebendigkeit, sondern mit dem häufigen Hinzufügen von zwei Oboen, Streichern sowieso und einem wirlich fundierenden Basso continuo mit Orgel, Cembalo, Theorbe, Violoncello, Viola da Gamba und Fagott auch ungemeine Direktheit und Farbigkeit im musikalischen Ausdruck. Meder selbst sprach von „pomposer“ Musik. Und wenn Mattheson samt Nachfolgern Meders (nun als „modern“ empfundene) Fähigkeit hervorhob, seine Texte nicht durch kontrapunktische Kunstfertigkeiten unverständlich zu machen, sondern „in seinen Kompositionen mit dem Geschmacke der Zeit mit fortgegangen zu seyn“ und sich „des Oratorischen Styls bedienet habe“, dann war genau das am Konzertabend zu beobachten, besser: in aller Deutlichkeit und Eindringlichkeit akustisch zu erfahren. Denn Meders Kirchenmusik, basierend auf strophischen Dichtungen und Bibeltexten, ist zusätzlich (oratorisch!) vom Willen bestimmt, dem Wort eine prägnante musikalische Gestalt zu verleihen, es bildhafter, einprägsamer erscheinen zu lassen. Oder wie die zitierten „Fachleute“ feststellten, Texte musikalisch „nach dem Inhalte derselben“ einzurichten.
Spätestens hier geraten jene in den Blick, die solche Musik zum dann „richtigen“ Klingen bringen und genannte „Inhalte“ verdeutlichen wollen. In diesem Falle war es das namhafte, international geschätzte Goldberg Baroque Ensemble aus Danzig, das unter der Leitung seines Gründers (2008) und Leiters Andrzej Szadejko für eine authentische, weil im Hinblcik auf die sogenannte historisch informierte Aufführungspraxis hochspezialisierte Wiedergabe sorgte. Und dies auf Originalinstrumenten beziehungsweise ihren Kopien, barocken Bögen mit „alter“ Handhabung, entsprechend spezieller Tongebung (kein Vibrato), Artikulation und Phrasierung. Daraus resultierte eine ungemein lockere, inspiriert wirkende, ja fesselnde Musizierhaltung. Deren einerseits so tief verinnerlichter wie andererseits raumfüllender und glänzender Klangpracht konnte sich niemand entziehen. Um so weniger, als man sich gestalterisch keine Großzügigkeiten leistete, Meders Ringen um Wortausdeutungen ernst nahm und im Übrigen für eine stets stringente, die Aufmerksamkeit des Hörers unablässig fordernde Musizierweise sorgte. Das klingende Ergebnis waren jene „starken Kirchenstücke“, von denen Mattheson schon 1740 sprach.
Als Überbringer geistlicher „Botschaften“ hatten daran natürlich die fünf Vokalsolisten besonderen Anteil. Solistisch wie in verschiedenen Ensembles sorgten sie in der Besetzung für zwei Soprane, Altus (männlicher Alt), Tenor und Bass für durchweg ausdrucksstarke Partien und nicht wenige Gänsehaut-Momente. Dies war nicht zuletzt der Tatsache geschuldet, dass Meder mit der schon erwähnten häufigen Dialogstruktur und der vielfach kontrastreichen Gliederung in diverse unterschiedliche Darbietungsformen und Ausdrucksbereiche für viel Dramatik und Ausdrucksvertiefung sorgte. Und so waren wohl nicht wenige Besucher dieses Abends so erstaunt wie ergriffen von einer Musik, die sie mit den territorial so abgelegen scheinenden baltischen Ostee-Küsten wohl kaum in irgendeiner Beziehung gesehen hatten. Umso überraschender ihre Überzeugungs- und Wirkungskraft, die sicher lange nachhallen dürften. Johann Valentin Meder ist nun dank dem Goldberg Baroque Ensemble vielen Musikfreunden kein Unbekannter mehr!