„novembrig“ ist ein poetischer Gedichtzyklus über das Ende des Lebens, voller Sinnlichkeit und Geheimnis. Ulrich Zeitlers Vertonung gibt den Worten der schweizerischen Lyrikern Elsbeth Maags allen Raum, den diese brauchen. Dafür hat der in Freiburg und der Ostschweiz lebende Komponist, Pianist und Kirchenmusiker den Prozess der musikalischen Textvertonung von Grund auf neu durchdacht. Ein Musikensemble, bestehend aus fünf Gesangsstimmen und fünf Instrumenten, hat sich auf dieses Abenteuer eingelassen und mit viel polyphonem Klangfarbenreichtum und Jazzelementen experimentiert.
Haben Sie das neue Werk „novembrig“ schon uraufgeführt?
Wir haben es bereits zweimal aufgeführt, am 31. Oktober und am 3. November 2023 – das war die offizielle Premiere. Unser Auftraggeber Alois Bischof wollte, dass die Premiere in einer weltlichen Umgebung stattfindet, da die Texte keinerlei religiösen Bezug haben. Unsere Voraufführung am 31. Oktober fand in „meiner“ Kirche im Schweizer Kanton St. Gallen, in der Stadt Buchs an der Grenze zu Liechtenstein statt. Ich arbeite dort als Kirchenmusiker und finde meine Arbeit wunderbar – mit einem großartigen Pfarrer und einer tollen Gemeinde. Ich habe hier viele Möglichkeiten.
Wie hat sich dieses Projekt entwickelt?
Das ist eine sehr lange Geschichte. Die Autorin Elsbeth Maag hat ihren Gedichtzyklus ursprünglich in Schweizerdeutsch geschrieben. Die erste Fassung wurde bereits vom Komponisten Peter Roth vertont. Dessen Komposition unterscheidet sich völlig von meiner Version und ist für Chor, Instrumente und eine Solistin. Alois Bischof sang damals im Projektchor, der das Werk aufgeführt hat. Peter Roth dirigierte das eigentliche Konzert, aber ich habe den Chor damals einstudiert. Später trat Alois Bischof einem meiner Vokalensembles bei. Von ihm erhielt ich die Anfrage, die November-Gedichte auf Hochdeutsch zu vertonen. Er war vor allem von meiner Missa Credo beeindruckt, die ich bereits auf CD veröffentlicht hatte.
Warum wurde das Original mit einer neuen Musik ins Hochdeutsche übertragen?
Die Gedichte sollten nicht auf den schweizerdeutschsprachigen Raum beschränkt bleiben, sondern einem größeren Publikum bekannt werden. Deshalb wurde der Text komplett ins Hochdeutsche übertragen. Elsbeth Maag hat mich gebeten, diese Übersetzung mit ihr durchzugehen, und anscheinend hat ihr meine Art, mit Sprache umzugehen, sehr gefallen.
Was fasziniert Sie an diesen Texten und wie würden Sie Elsbeth Maags Stil beschreiben?
Mich fasziniert ihre zeitgenössische Denkweise, diese Zwischenräume und der schwebende Zustand in den Texten. Sie befinden sich damit irgendwo zwischen den Jahrhunderten und Kulturen und das auf eine ganz natürliche, selbstverständliche Art und Weise. Für mich strahlt diese Lyrik eine wunderbare Art von Naivität im positiven Sinne aus.
Wie lange hat die Arbeitsphase mit den Musikern gedauert?
Alles musste sehr zügig vonstatten gehen. Zum Glück habe ich viele Musiker, mit denen ich mich sehr gut verstehe und oft zusammenarbeite. Wir hatten für alles zusammen nur drei Tage, haben hart geprobt und sofort alles aufgenommen. Ich wusste, dass sie großartige Musiker sind und bin das Risiko gerne eingegangen. Gott sei Dank lief alles gut, obwohl wir kurz vor der Aufnahme aufgrund von Krankheit noch zwei Musiker ersetzen mussten.
Hat die knappe Zeit produktiv gemacht?
Absolut. Die drei Arbeitstage haben viele spontane und überraschende Höhepunkte hervorgebracht. Man übt und optimiert und dabei passieren oft unverhoffte Glücksmomente, die man nicht einfach herbeirufen kann. Das war genau meine Hoffnung, dass so etwas passieren würde – und wahrscheinlich wird es auch immer wieder mit diesen Leuten passieren.
Hatten Sie bereits bestimmte Sängerinnen und Sänger für bestimmte Stimmen und Partien im Kopf oder hat sich das erst im Prozess ergeben?
Eigentlich beides. Die gesamte Entwicklungsphase dieses Werkes war völlig anders als alles, was ich zuvor gemacht habe. Normalerweise sehe ich meine Interpreten vor mir und schreibe für sie. Vieles hat sich spontan entwickelt. Wir haben viel mit den Klangfarben experimentiert, die ein differenziertes Element in der gesamten Musik sind. Ich bin glücklich, solche talentierten Musikerinnen und Musiker zu haben, die so spontan damit umgehen können.
Können Sie Ihren Umgang mit Klangfarben genauer beschreiben?
Beim Komponieren habe ich versucht, mir Farben gut vorzustellen und sehr genau festzuhalten, wie es klingen soll. Es war toll, dass meine Sängerinnen und Sänger aktiv mitgestaltet und oft auch dazwischengerufen haben, wenn sie etwas anders färben wollten. Es war wunderbar, dass wir gemeinsam die endgültigen Klangfarben noch modifizieren und verfeinern konnten. Hier zahlt sich aus, dass die Gesangsqualität im Allgemeinen während der letzten 15 bis 20 Jahre deutlich gestiegen ist.
Wie ist aus dem geschriebenen Text letztlich die Musik entstanden?
Manchmal fragte ich mich sogar: Soll ich überhaupt Musik zu den Texten machen? Alois Bischof wäre es auch recht gewesen, wenn nur eine Sängerin vorne gestanden hätte. Aber ich bewegte mich in eine andere Richtung, vor allem, weil mein Kompositionsstil immer sehr polyphon ist. Das passt zur Vielschichtigkeit in Elsbeth Maags Texten, die ich in der Musik widerspiegeln wollte. Mir kam langsam eine Idee, wie ich die Texte aufbrechen und mit den Instrumenten kombinieren kann, um ihnen wieder eine eigene sinnliche Qualität zu geben, aber ohne dass es platt oder theatralisch wird. Ich wollte auch keine abgedroschenen experimentellen Sachen machen. Das wäre dem Projekt nicht gerecht geworden.
Was meinen Sie mit den Text aufbrechen? Können Sie das vielleicht an einem Beispiel erklären?
Man sollte den gesamten Text nicht linear lesen, sondern sich auf jedes einzelne Wort konzentrieren, das wiederum eine eigene Farbe hat. Die Geschichte wird nicht einfach in zusammenhängenden Strophen erzählt, sondern oft in den Instrumenten. Das passt auch zur Grundlage des Textes, da moderne Lyrik oft fragmentarisch und assoziativ ist. Ein Beispiel dafür ist das Titelstück Nr. 5 „novembrig“. Da taucht der Gesang nur gelegentlich zwischen dem Klavier und der Violine, quasi als eine Art Bariton-Begleitung, auf. Der Bariton kommentiert also eher, was das Klavier und die Violine erzählen.
Für mich war klar, dass die Emotionen, Farben und Stimmungung in diesen Worten Zeit brauchen, um sich zu entfalten, und man daher diese Texte nicht einfach linear abarbeiten kann. Lyrik und Musik sind zwei verschiedene Welten. Musik spielt sich in der Zeit ab, sie definiert den Verlauf für alle Hörer sehr klar, es bleibt ihr gar nichts anderes übrig. Lyrik ist fragmentarisch und lässt sehr viel Raum und Freiheit. Allein schon durch die Art, wie man Lyrik liest, wird jeder zu ihrem Interpreten – in dem Maße wie in der Musik nur die Ausführenden. Eine solche Freiheit ist eine große Herausforderung: Lyrik einfach zu konsumieren, sie zu lesen, ohne sie irgendwie zu „interpretieren“, ist unmöglich oder zumindest sinnlos. Vielleicht hat sie deshalb heute auch einen so schweren Stand. Mir ging es jedenfalls darum, die Worte mit Musik zu „umgeben“ und damit manchmal an jedem einzelnen Wort hängen zu bleiben, wie es beim Lesen von Dichtung auch funktioniert.
Mich begeistert die hohe Präsenz von Jazz-Elementen in der Musik, die Sie dafür kreiert haben. Es geht um Tod und Abschied, trotzdem erklingt nichts Erdrückendes oder Schweres. Zugleich ist dieses Werk von jedem gut gemeinten Klassik-Jazz-Crossover erfreulich weit entfernt und es gibt einprägsame Klangfarben: Ich denke hier nur beispielsweise an die sinnliche gestopfte Trompete, die Christian Sonderegger spielt.
Ihr Klavierspiel wirkt oft erfrischend „improvisiert“ und harmonisch kann man wohl von viel höherer Jazzharmonik ausgehen. Wie stehen Sie dazu?
Das liegt natürlich an meiner Biografie. Ich bin ja in vielen verschiedenen Kontexten unterwegs und gebe auch Unterricht an der Musikhochschule Freiburg im Fach „schulpraktisches Klavierspiel“. Da improvisieren wir in allen Stilen und natürlich auch im Jazz. Ich lebe in dieser musikalischen Sprache. In meinen bisherigen Veröffentlichungen gibt es auch immer einen großen Improvisationsanteil in den Instrumentalparts. Etwa die Hälfte ist ausnotiert, zum Teil sehr polyphon, die andere Hälfte basiert nur auf Akkordsymbolen. Trotzdem habe ich klare Abgrenzungspunkte zum Jazz.
Und die wären?
In der gängigen Jazz-Praxis gibt es einen festgelegten Chorus, über den improvisiert wird – und jeder Musiker zeigt, wie er ihn interpretiert, und daneben auch einfach, was er kann. Eine Jazzinterpretation im üblichen Sinne hat viele Aspekte und wechselt ständig. Aber für mich geht dabei oft das Besondere verloren, was genau diese Atmosphäre und Stimmung ausmacht. Ich möchte eine bestimmte Stimmung erzeugen und vertiefen, indem ich einen harmonischen und emotionalen Spannungsbogen von Anfang bis Ende kreiere.
Wie verhält es sich bei „novembrig“?
Das Großartige ist, dass alle Elemente, die mich begeistern, hier zusammen kommen.
Wie empfinden Sie jetzt das fertige Resultat?
Ich muss sagen, es sind Klangeffekte entstanden, die mich einfach umgehauen haben. Als Komponist weiß man am Ende nie genau, wie es im Ganzen wirkt, auch ich muss mich überraschen lassen. Natürlich stellt man sich vorher alles sehr intensiv vor. Ich arbeite übrigens nicht mit Soundprogrammen oder Ähnlichem. Ich setze zwar meine Noten am Computer, höre sie mir aber nicht an. Den Endsound kann ich sowieso nicht annähernd simulieren. Diese Komposition war ein großes Experiment für mich. Und es wäre schade, wenn ein neues Werk kein Experiment wäre.
Sind weitere Aufführungen Ihrer Werke geplant?
Ja, auf jeden Fall. Im Moment haben wir eine aufregende erste Etappe hinter uns, die sehr zufriedenstellend war. Wir nehmen uns jetzt etwas Zeit, um durchzuatmen und zu schauen, wie es weitergeht. Es stehen definitiv weitere Konzerte an und wir haben bereits eine Anfrage für eine Aufführung in Rheinfelden, Schweiz, am 23. November 2024. Wir würden uns natürlich über weitere Anfragen von Konzertveranstaltern sehr freuen!
Ulrich Zeitler, vielen Dank für dieses Gespräch!