Einfach Klassik.

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Nachlese: Das Festival – kammermusikalisch

„Ich bin stolz, eine Estin zu sein, die die universelle Sprache der Musik in der ganzen Welt verbreitet und mein kleines Land einem größeren Publikum vorstellt“ freut sich die Sopranistin Mirjam Mesak, dass sie sich auf dem Usedomer Musikfestival zu ihrem Heimatland mit seinem reichen musikhistorischen Erbe bekennen konnte. Neben einem großen Aufgebot an estnischen Musikerinnen und Musikern und einer immensen Fülle an Kompositionen aus dem kleinen baltischen Land ging es beim Festival auch musikhistorisch ans Eingemachte.  

Musikalische Geschichtswerkstatt beim Festival

Ein Abend im Konferenzsaal des Steigenberger Hotels im zentralen Festivalort Heringsdorf wurde zur Geschichtswerkstatt. Jan Brachmann, Journalist, Musikwissenschaftler und künstlerischer Intendant des Festivals initiierte ein Podiumsgespräch über eine tragische Episode aus dem Leben Ludwigs van Beethoven und dies mit unmittelbarem Estland-Bezug: Aus Ludwig van Beethovens geheimgehaltener Liebe zur ungarischen Gräfin Josephine van Brunswick könnte – worauf heute diverse Briefwechsel hindeuten – eine Tochter mit dem Namen Minona hervor gegangen sein. Die Verbindung mit Beethoven sollte aufgrund damaliger Stände-Unterschiede „illegitim“ bleiben. Offiziell galt Minona als Tochter des baltendeutschen Barons Christoph von Stackelberg, der ins heutige Tallinn übersiedelte. Die Lebensgeschichte des jungen Mädchens muss traurig verlaufen sein. Noch mehr widerspiegelt sich in dieser Episode der tragische Unterton im Lebensschicksal Beethovens. Er selbst antwortete mit großer Musik darauf. Ein junges estnisches Duo, bestehend aus Hans Christian Avik, Violine und Karolina Avik, Klavier, musizierten drei seiner Violinsonaten, welche diese Tragik widerspiegeln. Das Schicksal der Tochter Minona hat der estnische Komponist Jüri Reinvere für seine gleichnamige Oper aufgegriffen, die im Jahr uraufgeführt wurde. Mirjam Mesak, Sopran und Ewa Danilewska brachten daraus zwei eindringliche Monologe zum Klingen. 

Mirijam Mesak, Foto © Geert Maciejewski
Mirjam Mesak, Foto © Geert Maciejewski

Es darf in herrliche Landschaft und Natur eingetaucht werden

Das Festival „erschlägt“ nicht mit einem Überangebot, sondern bietet viel „Luft“ zwischen den Konzerten an vielen Spielstätten überall auf der weitläufigen Insel Usedom. Umso mehr Muße gibt es, in die herrliche Landschaft und Natur einzutauchen. Jenseits der trubeligen Küstenbadeorte umgibt einen auf Usedom eine meditative Stille und Weite. Verträumte Orte offenbaren mit ihren alten Kirchen echte Schmuckstücke. Zum Beispiel im Städtchen Benz, in dessen Kirche das Duo aus Mirjam Mesak und Ewa Danilewska das Konzertmotto „Herbst-Sonnenlieder“ wörtlich nahm. Dunkle Dramatik türmt sich in vielgestaltigen Liedern von Rachmaninoff auf. Nach der Pause öffnen die beiden ein kompositorisches Schatzkästlein aus estnischer Provenienz: Eigenwillig- lyrisch, aber auch voll funkelnder Klangimpressionen kommen Lieder von Ester Mägi daher. Noch eindringlichere Seelenzustände widerspiegeln die Lieder von Eduard Tubin – und ja: Gerade hier setzte der tiefschürfende Gesang von Mirjam Mesak ein Statement für ihr Heimatland, welches aus tiefstem Herzen kam.

Schöpfer-Genius unter feindlichen Zeitumständen 

Wer kennt heute schon Johann Valentin Meder? Er war im ausgehenden 17. Jahrhundert einer der innovativsten Musik-Erneuerer. Die estnische Musikologin Anu Schaper forscht gerade über diesen produktiven Genius. Von Thüringen aus verschlug es Meder ins estnische Tallinn. Später ins lettische Riga, wo er es zu höchstem Ansehen brachte. Spannend – und ja – irgendwie auch beklemmend aktuell klingen Anu Schapers historische Einordnungen in Zeitumstände, die Ende des 17. Jahrhunderts von Krieg und Pestepidemie gezeichnet waren. Tief berührend und vollendet ist die Art, wie das Goldberg-Ensemble mit Meders geistlichen Werken den Kirchenraum zu etwas Größerem, Höherem und Ewigen machte. (siehe Bericht hierzu unter…) 

Die Reise, welche diese fünf Tage zu einem gefühlt viel längeren Aufenthalt gemacht hat, passiert weitere, einladende Stationen: Ein verspielt-verwilderter Garten liefert Ein- und Durchblicke auf zahlreiche, anmutige Skulpturen. Das Wohnhaus von Otto Niemeyer bei der Siedlung Lüttenort unweit des Badeortes Koserow ist heute eine Galerie mit den Arbeiten dieses freigeistigen Künstlers. Dieser segelte in den 1930er Jahren von Berlin nach Usedom und lebte hier bis zu seinem Tod. Heute ist das Anwesen zu einem attraktiven Kulturort ertüchtigt worden – und wurde zum denkbar besten Schauplatz für eine Matinee der feinen Töne: Kristi Mühling zeigte ihre hohe, mehrstimmige Spielkunst auf der Kannel, der estnischen Kastenzither, einem sehr feinsinnigen, wie auch durch seine Möglichkeiten für Mehrstimmigkeit erstaunlich potentem Instrument. Bachs Musik wurde hier zum nährenden Strom für so vieles mehr, was die reiche Überlieferungskultur von Mühlings Heimatland hervorbringt. 

Kristi Mühling, Foto © Geert Maciejewski
Kristi Mühling, Foto © Geert Maciejewski

„Die heile Wirklichkeit ist bedroht“ 

Der Kaiserbädersaal im monumentalen Luxushotel Kaiserhof in Heringsdorf dürfte wohl die mondänste Spielstätte bei diesem Festival sein. Bis zum letzten Platz gefüllt war dieser, als 

Schauspielerin Martina Gedeck ihre Stimme einem der bedeutendsten Stücke Literatur aus Estland gab: Viivi Luiks Roman „Der siebte Friedensfrühling“ erzählt das alltägliche Leben in Estland unter der sowjetischen Herrschaft und nimmt diese Wirklichkeit so plastisch und farbenreich unter die Lupe, wie es nur unverstellten Kinderaugen gelingen mag. Hautnah zieht Vivvi Luiks  bildhafte Sprache in ein Landleben hinein, in dem die Natur und die Jahreszeiten übermächtig sind – in denen aber die heile Wirklichkeit auch bedroht scheint durch die Regulierungswut der sowjetischen Machthaber. Luiks Roman bietet ergreifende Bilder, die eben nur durch die kindliche Wahrnehmungsperspektive möglich sind. Der kraftvollen Stimme von Martina Gedeck konnte sich dabei im Kaiserbädersaal niemand entziehen. Was aber auch dem Potenzial ihrer Partnerin geschuldet war: Pianistin Hideyo Harada kommentierte und beantwortete die Textpassagen dieses Schlüsselromans mit treffsicher ausgewählten Kompositionen aus Estland. Etwa vom einflussreichen, aus der Spätromantik schöpfenden Heino Eller, von seiner Schülerin Ester Mägi, von Jüri Reinvere. Und Lepo Sumeras minimalistisch-kristallines Stück „Vom Jahr 1981“ funkelte wie eine vom Wind bewegte Wasserfläche. 

Signum Quartett, Foto @ Geert Maciejewski
Signum Quartett, Foto @ Geert Maciejewski

Streichquartettkunst beim Festival auf höchstem Niveau 

Auf einem Hügel, von dem der Blick auf die glitzernde Wasserfläche der Ostsee reicht, erhebt sich die Evangelische Kirche des Ortes. Diese wurde zur perfekten Klangumgebung für das hochmotivierte, in Bremen ansässige Signum-Streichquartett, welches bei seinem grandiosen Auftritt die Diversität estnischer Kompositionsstile in der Neuzeit erfahrbar machte. Gedeckte Farbtöne und herbe Atmosphären bringen den beginnenden Herbst in Ester Mägies Vesper zum Klingen. Die Welt ist im Aufruhr in Heino Ellers hitzigem Streichquartett mit seinen Konfrontationen und harschen Impulsen – auch diesem Werk stand die gut geerdete Klang-Kultur des Signum Quartettes vortrefflich.  Zum großen, imaginären Theater gestaltete das Signum Quartett schließlich Franz Schuberts Streichquartett G-Dur D 887. Hier windet sich ein Lebensfaden durch zahllose Stationen, öffnen sich emotionale Fenster, spalten sich Exkurse in weite Fantasieregionen und Traumwelten ab. Aber nur dann, wenn man diese Welt spieltechnisch-instrumental, sowie geistig und emotional zu bewältigen weiß. Und genau das können Florian Donderer, Violine, Anette Walther, Violine, Xandi van Dijk, Viola und Thomas Schmitz, Violoncello – eben weil sie ihre „Rollen“ von grundauf verstehen. 

„Wir sollen das Verbindende zeigen! Gerade in schwierigen Zeiten, in den wir gerade stehen“ resummierte Thomas Hummel das Anliegen diesen vielgestaltigen Musikerlebnisse beim Usedomer Musikfestival. Nahrung für Sinne, Geist und Seele gab es dabei auf jeden Fall genug. 

Das nächste Usedomer Musikfestival findet vom 23. September bis 7. Oktober 2023 statt. 

Icon Autor lg
Musik und Schreiben sind immer schon ein Teil von mir gewesen. Cellospiel und eine gewisse Erfahrung in Jugendorchestern prägten – unter vielem anderen – meine Sozialisation. Auf die Dauer hat sich das Musik-Erleben quer durch alle Genres verselbständigt. Neugier treibt mich an – und der weite Horizont ist mir viel lieber als die engmaschige Spezialisierung, deswegen bin ich dem freien Journalismus verfallen. Mein Interessenspektrum: Interessante Menschen und ihre Geschichten „hinter“ der Musik. Kulturschaffende, die sich etwas trauen. Künstlerische Projekte, die über Tellerränder blicken. Labels, die sich für Repertoire-Neuentdeckungen stark machen. Mein Arbeitsideal: Dies alles fürs Publikum entdeckbar zu machen.
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