„Klassische Komponisten waren immer schon der Faszination für die konventionslose Art des Musikmachens erlegen und haben Jazzelemente in ihre Werke integriert“, bemerkt Barbara Eckle zu Recht im Einführungstext zum Konzert „Play Big“ bei der Ruhrtriennale. Aus bestehenden Limitierungen ausbrechen, schließt immer die Forderung mit ein, „groß“ zu denken. Etwas Größeres als die Kooperation zwischen dem Orchester der Basel-Sinfonietta, der NDR-Bigband, dem Chorwerk Ruhr und zwei der herausragend zeitgenössischen Jazz-Protagonisten namens Lucas Niggli und Kalle Kalima ist wohl in dieser Form noch nie über die Bühne gegangen. Die drei großen Werke dieses Abends von Sofia Gubaidulina, Michael Wertmüller und Simon Steen-Andersen legten hier vielschichtige Ansätze offen und brachten (wen wundert’s?) mit ihrer gesamten Wucht die Bochumer Jahrhunderthalle zum Beben.
Öffnung für die Leichtkeit
Sofia Gubaidulina, normalerweise eine Komponistin von tief spirituellen Werken, hat sich in ihrer „Revuemusik“ aus dem Geist der 1960er Jahre mit der Öffnung des Orchesters für das Leichte und Swingende auseinandergesetzt – aber nie ohne auf ihre gewohnte Weise tief zu schürfen dabei. So etwas ganz in der Jahrhunderthalle allen Beteiligten genug Futter, um die vielen musikalischen Möglichkeiten befreit wuchern zu lassen. Sofia Gubaidulinas Partitur liefert hier genug Versuchsanordnungen und entfaltet auch so etwas wie abgeklärte Poesie dabei. Konkret: Gerade hat das Orchester ein orgiastisches Tutti aufgetürmt, da peitschen die Rimshots von Lucas Niggli’s Schlagzeug voran, macht die Bläsersection der NDR-Bigband Druck, auf dass es böse swingt. Was dann aber ohne Umschweife bis in die feinsten Nervenbahnen des sinfonischen Apparates zurückfließt, der dadurch eine Art diabolische Frischzellenkur erfährt und zur Super-Jazzband mutiert. Kurzum: An klanglichen Rauschzuständen und vibrierender Hochspannung sollte es in der Jahrhunderthalle nie mangeln.
Hinter der ästhetischen Provokation steht Genauigkeit
Extrovertierter und noch stärker auf die rhythmischen, motorischen Qualitäten eine „Crossovers“ zwischen Jazz und Sinfonik hat Michael Wertmöller sein brandneues Werk „Shlimazl“ abgestimmt. Man merkt, dass hier ein Schlagzeuger als Komponist am Werke war und es passt auch, dass er seine neue Komposition dem im Juni verstorbenen Saxofonisten Peter Brötzmann gewidmet hat. Die Uraufführung in Bochum dockte aber nicht so sehr an Brötzmanns oft kakophonische Klangwelt an, denn dafür wirken hier alle Prozesse von viel zu viel raffiniert ausgearbeiteter polymetrischer Präzision gesteuert. „Schlamassel“ in der wahren Bedeutung dieses jiddischen Wortes hat eben auch nichts mit außer Kontrolle geratenem Chaos zu tun, sondern meint eine – künstlerisch und gesellschaftlich dringlich erwünschte – „Vielstimmigkeit ohne Gleichschaltung.“ Genug ästhetische Provokation ist allemal im Spiel, die allein schon in der schieren Kraftentfaltung und dem motorischen Pulsieren gründet. Im Zentrum agiert wie immer hellwach und hoch konzentriert Lucas Niggli, der mit seinen omnipräsenten Aktionen auch mal den filigranen Pizzicati in der Cello-Section des Sinfonieorchesters Nahrung gibt. Die besonders charismatischen Momente gehörten dem finnischen Gitarristen Kalle Kalima: Gerade noch türmten sich riesige Wogen des Orchestertuttis auf, im nächsten Moment ließ Kalle Kalima ganz allein einen hymnisch-dissonanten Monolog im Vintage Sound aus dem Röhren-Amp hervor brechen.
Neue Musik, bei der auch gelacht werden darf
Lässt sich so etwas noch steigern? Es lässt sich! Nach der Pause wurde die Besetzung vergrößert. Das gesamte Chorwerk Ruhr nahm Aufstellung, sodass nun wohl über 100 Menschen auf der ebenerdigen „Bühne“ walteten. In Simon Steen Andersons „Trio“ für Orchester, Bigband, Chor und Video aus dem Jahr 2019 geht es aber nicht allein um das Musikerlebnis, denn der zurzeit extrem gefragte dänische Komponist will in seinen Performance-Projekten, Installationen und Kompositionen Kontexte herstellen und auf Diskurse einwirken. Auf einem Videoscreen sehen wir in Schwarz-Weiß ein Orchester, welches einen einzigen Ton im großen Tutti spielt und dafür den Applaus entgegennimmt. Das „reale“ Orchester und auch der Chor antworten mit einem solchen Ton. Im noch größeren Breitwand-Tutti. Das Ganze wird mehrfach wiederholt, sodass eine Art Loop daraus entsteht. Erste Lacher im Publikum. Was ist denn hier wohl die Message ist? Aber bevor man darüber nachdenkt, ist man schon hineingesogen in einen atemlosen Bilder- und Töne-Rausch aus Bildsequenzen, Tonschnipseln, Zitaten und Fragmenten, in denen der riesige, menschliche Klangkörper immer flexibler und aberwitziger agiert und auf ständig neu eingespielte audiovisuelle Schnipsel (re-)agiert. Das hat was von postmoderner Dekonstruktion und wirkt zugleich unterhaltsam, ja situationskomisch. Die Lacher breiten sich weiter aus im Publikum. Gewährt das Spektakel doch mal eine Sekunde zum Nachdenken, kommt in den Sinn, dass Simon Steen Anderson unter anderem mit dem Mauricio-Kagel-Preis geehrt wurde. Denn auch in diesem Riesenwerk des Dänen lebt Mauricio Kagels Geist der satirischen Reflexion rund um die Rituale des Musikmachens und Konsumierens. Simon Steen Andersen kann so etwas mit dem in der Jahrhunderthalle versammelten Riesen-Potenzial mit ganz neuer Sinnlichkeit aufladen. Die ganzen Gesten, gepaart mit Bildern von streng dreinblickenden Maestros am Dirigentenpult, Sprachschnipseln aus Orchesterproben und kulturpolitischen Debatten, aber auch Momentaufnahmen aus den festen Ritualen im Jazz, persiflieren vergnüglich die soziale Grammatik von Herrschaftsverhältnissen in der Musik. Mehr noch – und damit geht Simon Steen Anderson „Trio“ einen Schritt weiter als Kagel: Der ganze vokale und instrumentale Klangkörper nebst seiner hochvirtuosen Solisten betrieb in der Jahrhunderthalle ein interaktives, virtuoses und heiter verspieltes Sampling aus solch einem Rohmaterial heraus.
Ein starker Höhepunkt der diesjährigen Ruhrtriennale
Viele Aufführungen der diesjährigen Ruhrtriennale haben mit ansteckender Frische die Blicke über Tellerränder und Horizonte geweitet. Diese extrem aufwändige Produktion kurz vor Ende der diesjährigen Festivalausgabe hat noch einmal einen starken Höhepunkt gesetzt.
Titelfoto © Christian Palm