Ein Gastbeitrag von Ekkehard Ochs
Zwar schien der schon von einigen staatlichen Auflagen (Corona) geprägte Auftakt im Oktober 2020 mit einer ersten Aufführung jeweils in Stralsund und Greifswald durchaus verheißungsvoll. Aber dann kam die Pandemie mit voller Wucht und gravierenden Folgen. Erfreulicherweise bedeutete die folgende dreijährige Schließung des Theater Vorpommern aber nicht das generelle Aus für eine Produktion, die mit der szenischen Einrichtung von Schuberts „Winterreise“ absichtsvoll einen anderen Blick auf diesen berühmten Liederzyklus werfen und auf die Möglichkeiten einer neuen Vermittlungsweise aufmerksam machen wollte. Dies nun erneut als kürzlich erfolgte und von der Dramaturgin Katja Pfeifer betreute Wiederaufnahme zunächst im Theater Putbus, danach im Großen Haus Stralsund und am 13. Dezember – hier zur Debatte stehend – in Greifswalds Stadthalle. Dirk Löschners szenische Einrichtung begnügt sich mit unterschiedlich hohen Metallpodesten rechts und links vom mittig positionierten Flügel, die sich auf einem Vorhang und in großen Mengen weit nach hinten in eine unbegrenzte Ferne auszudehnen scheinen. Der „Wanderer“ bewegt sich weitgehend vor den Podesten, gelegentlich (und zu Liedinhalten passend) auf ihnen. Dies in salopp wandertauglicher, schon abgetragen scheinender Alltagskleidung – so auch der Pianist – und mit einem Rucksack, der immer wieder auf- und abgenommen sowie gelagert oder hin- und hergetragen wird; ein wohl handlungsbedingt unverzichtbares Objekt, das als wichtig, weil strukturierend eingesetzt scheint. (Bühne und Kostüm Christopher Melching). Im Übrigen spielt sich alles in gedämpftem Licht ab, begleitet von farblich wechselnden, ziehenden und ebenfalls eher dunklen Wolkenformationen auf der rückwärtigen Leinwand (Licht Christoph Weber). Soweit zum Äußerlichen als jener „Bühne“ oder „Landschaft“, auf oder in der sich die den Liederzyklus bestimmenden (meist trostlosen!) äußeren Bedingungen wie inneren Erlebnisse des sich fremd fühlenden, verzweifelten, ohne jede Hoffnung Wandernden und letztlich sich Aufgebenden abspielen. Große, nicht alltägliche interpretatorische Aufgaben also für den Bariton Maciej Kozłowski und David Behnke am Flügel.
Die spannende Frage, die eine Aufführung jenseits traditioneller konzertanter Darbietungsform aufwirft, ist die nach der Sinnfälligkeit einer wie konkretisierend szenisch auch immer gearteten Präsentation. Und da durfte der Besucher die Erfahrung machen, dass sich der ideale Platz des Sängers nicht zwangsläufig statuarisch neben dem Flügel befinden muss. Zumal Maciej Kozłowski schnell erkennen ließ, dass ein durchaus schon mal raumgreifender Bewegungsradius ungemein ausdrucksentsprechend und -intensivierend wirken kann. Vor allem dann, wenn der Protagonist über die Fähigkeit, das singend zu Gestaltende im rechten Maß sowie mit entsprechender Bewegungsvariabilität und -intensität zu verbinden weiß. Da ergeben sich Verständnis- und Empfindungsdimensionen, die man nicht nur als Interpret kaum im Fokus hatte und die sich als ausgeprochen wirkungsmächtig erweisen. Und passend! Nicht unwahrscheinlich auch, dass die Möglichkeiten szenisch-theatralischen Ausspielens des Gesungenen dem Interpreten ungewohnte Gestaltungsmöglichkeiten eröffnen; etwa die – wie dann tatsächlich nicht selten geschehen – einem Lied den Charakter einer musikdramatischen Szene zu verleihen. Und, ganz allgemein, den Einsatz dann gefragter körperlicher Aktivitäten nutzend, die eigene Gestaltungsfähigkeit auf neue Art zu erproben, vielleicht gar neue Interpretationsmöglichkeiten anzubieten. Die Greifswalder Aufführung präsentierte dies alles auf sehr stimmige, überzeugende Weise. Also sinnfällig! Und mit einer Souveränität, die an keiner Stelle den Verdacht aufkommen ließ, der meist ziemlich große, zumal sich ständig ändernde Abstand zwischen Pianisten und Sänger könne ein Problem sein. Dieses eindrucksvolle Zusammenwirken auf gestalterisch völlig gleich hoher Ebene war schon eindrucksvoll. Und es war die Voraussetzung für eine vielzitierte Botschaft Schuberts, an die man im Verlaufe dieses Abends besonders oft denken musste: die von düsterer Stimmung geprägte Ankündigung des Komponisten, er werde demnächst seinen Freunden „einen Zyklus schauerlicher Lieder vorsingen…Sie haben mich mehr angegriffen, als dieses je bei andern Liedern der Fall war.“
Schauerlich ging es in Greifswald nicht zu. Aber wir wissen, wie Schubert das meinte. Und so übersetzen wir das mal mit Begriffen wie tragisch, schmerzlich, auswegs- und trostlos; schlicht als im Wortsinne ergreifend, nicht loslassend und zutiefst berührend. Gepaart mit dem Wissen um eine durchaus neue Dimension in der Gattung „Lied“.
Der Glücksfall (auch) für die Greifswalder Aufführung des Theater Vorpommern: ein Sänger, dem stimmlich alle Möglichkeiten zur Verfügung stehen, den geradezu überbordend differenzierten emotionalen Facettenreichtum dieses abgründigen Liederzyklus voll auszuschöpfen. Eine wohltuend klangvolle, überaus kultivierte Stimme, schlank und sehr klar, voller Energie und Kraft, aber auch wie Samt und Seide; zudem von fesselndem piano und einer geradezu schmerzlichen klanglichen Intensität, ungemein empfindsam, spannungsvoll und von bestechend differenzierter Tonfärbung. Von stimmlichem Kontrastreichtum ganz zu schweigen. Nicht minder beeindruckend die prägnante Diktion und ein agogisch freier, sehr variabler, fesselnder Erzählgestus. Und auch das: das Vermögen, einen Ton mehr sein zu lassen als ein bloß akustisches Phänomen, ihn zum inhaltsträchtigen Ereignis zu machen! Kosłowski als der Idealtyp eines Liedersängers! Der brauchte allerdings jenen Partner, der ihm das alles ermöglicht. David Behnke, klaviererprobter Studienleiter des Theaters, bot ihm diese nötige Plattform. Und das durchaus jenseits jeden Korrepetitionsstils: als künstlerischer Partner, als Mitgestalter, ja Mitfühlender. Ein Abend, der zu sensibilisieren verstand, ein Abend von beeindruckender Wirkungsmächtigkeit!
Titelfoto © Peter van Heesen (Maciej Kozłowski)