Hört man anders, wenn man weiß, dass man gleich noch eine zweite Chance hat? Genauso könnte man fragen: Küsst man anders, wenn man im Anschluss noch einen zweiten Kuss bekommen wird?
Zugegeben: die Idee, ein Musikstück zu spielen, es dann zu erklären und danach noch einmal erklingen zu lassen, ist nicht neu. Doch wenn Menschen auf die Bühne kommen, die einem das Gefühl vermitteln, man sei einfach in ihr Wohnzimmer zu einem faszinierenden und zugleich fesselnden Gespräch eingeladen, dann bekommt das Ganze ein hohes Glückspotenzial, in diesem Fall im Konzertformat „2 x Hören“.
Einmal in Leoš Janáčeks Musik verliebt, begleitet sie einen das ganze Leben. Mir passierte das Mitte der Neunzigerjahre dank des Alban Berg Quartetts. Es spielte Antonín Dvořáks „Amerikanisches“ und Janáčeks erstes Streichquartett „Kreutzersonate“. Diese beiden wurden meine liebsten Werke für Quartett. Daher waren es gleich zwei unschlagbare Gründe, zu „2 x Hören“ ins Konzert zu gehen: ein interessantes Konzertformat und die Lieblingsmusik. Ich war sehr gespannt.
„2 x Hören“ unschlagbar attraktiv
Als Intendant Dr. Markus Fein im Frankfurter Mozartsaal die Bühne betritt, verspricht er zum einen Spannung wegen des großartigen Werkes und zum anderen wegen des außergewöhnlichen Ensembles. Das Signum Quartett, das seit 1994 besteht und Preisträger vieler hochrangiger Wettbewerbe ist, wird dieser Begrüßung mehr als gerecht. Sie beginnen das Streichquartett „Kreutzersonate“ mit einem weichen, homogenen Pianissimo und werfen von da an die Zuhörerschaft musikalisch von einem Extrem ins andere. Die für Janáček typischen Fragmente und Kurzmotive werden farbig so wundervoll ausgeleuchtet, dass einem fast der Atem stockt. Am Ende des 20-minütigen Quartetts ist der Saal „aufgeladen“.
So kommt es gerade richtig, dass Dr. Markus Fein, der in „2 x Hören“ sozusagen Zuhause ist, sich mit seinem Stuhl zwischen die Musikerin und die Musiker schiebt und beginnt, sie zu interviewen. Selbst ergriffen von der Musik, möchte er wissen, wie es sich für Annette Walther (Violine) anfühlt, dieses Werk zu spielen. Sie bestätigt, wie herausfordernd und gleichzeitig erfüllend diese Art von musikalischen Extremen sei. Der Cellist, Thomas Schmitz, ergänzt, dass ein Rest von Kontrolle über das Instrument behalten werden müsse. „Leider“, fügt er scherzhaft an.
So gibt das Quartett nach und nach Einblick in seinen Bezug zum Werk, in seine Arbeit unter anderem an Janáčeks Urtext („schreckliche Handschrift“) und mit dem tschechischen Musiker Milan Škampa. Man bekommt eine vage Ahnung über den langen Weg des Quartetts mit dieser Musik.
Dr. Markus Fein leitet mit einem Zitat von Milan Kundera in den Werkstatt-Teil, der zum Konzertformat gehört, über und stellt in Aussicht: „Wir kriechen jetzt in diese Musik.“
Die Mozart-Version
Auf die Leinwand gebeamt, erscheint die Partitur der ersten beiden Takte des Quartetts. Und so wird nach und nach entdeckt, was hinter den schwarzen Punkten mit den Notenhälsen steckt, was es bedeutet, wenn gegen das eigene musikalische Gefühl ein Sforzato (eine starke Akzentuation) notiert ist. Markus Fein bittet die Quartettmitglieder, ein paar Töne wegzulassen, genaugenommen die Dissonanzen, und nennt das dann die „Mozart-Version“. Man versteht schnell, mit welchen Mitteln Janáček gearbeitet hat.
Und natürlich ist da noch der Bezug zum Titel, „Kreutzersonate“. Das gleichnamige Buch von Lew Tolstoi, dem großen russischen Dichter und Autor, hat Janáček zu diesem Werk inspiriert und das gleich zweimal. Der erste musikalische Streich war ein Klaviertrio, welches Janáček direkt nach der Aufführung verbrannte. Janáček ging es um das moralische Problem von Tolstois Erzählung, dem Ehebruch einer Frau in einer unglücklichen Ehe, wobei er Mitgefühl für sie zeigte. Dr. Markus Fein stellt Bezüge zu Janáčeks Biografie und zu Janáčeks eigener Ehe her, zeigt Fotos und Notizen und sorgt anschließend für eine große Überraschung.
Denn auf die Bühne gebeten wird der Schauspieler und Moderator Bastian Korff. Wer seine Stimme aus dem Radiosender hr2 kennt, ist entzückt und kann sich denken, was kommen wird: Einzelne Ausschnitte der Musik werden mit der Lesung eines Teils von Tolstois „Kreutzersonate“ kombiniert. So nah der Gedanke ist, Text und Ton zusammen zu bringen, kaum jemand hatte wohl damit gerechnet. Bastian Korff ist mit seiner Stimme das, was das Signum Quartett als Ensemble ist: ein Magier des Klanges. Man hängt an seinen Lippen und ein weiteres Mal steigt die Spannung im Saal ins Unermessliche.
Ich frage mich in diesem Moment beim Zuhören, ob die Musiker*innen anders spielen oder ich anders höre, denn plötzlich wird das Werk für mich zur Programmmusik oder fast zu einer Oper. Diese Frage wird mir im Anschluss jedoch durch Erläuterungen des Quartetts beantwortet: Janáček hat mit diesem Werk eben keine Vertonung des Buches schaffen wollen. Im Zusammenhang mit der Lesung sei jedoch genau das (mit Absicht) passiert. Wieviel Tolstoi steckt in Janáček?, wird zu einer diskussionswürdigen Frage.
Ahnungen und versteckte Worte
Der Bezug zur Sprache hat mit einer Besonderheit aus Leoš Janáčeks Leben zu tun, von der ich keine Ahnung hatte. Dr. Markus Fein zeigt ein Bild eines Hippschen Chronoskops. Das ist ein elektromechanischer Kurzzeitmesser, mit dem Leoš Janáček kurze Dialoge oder Monologe von Menschen ausgemessen hat, so dass er diese in Noten darstellen konnte. Mit Beispielen und der Hilfe eines tschechischen Muttersprachlers bekommt das Publikum ein Gefühl für die Worte, die in dem an diesem Abend aufgeführten Streichquartett womöglich stecken könnten.
So ist es fast obsolet zu erwähnen, dass der anschließende zweite Durchlauf des Streichquartetts „Kreutzersonate“ anders klingt als der erste. Neben den musikalischen Extremen für die Ohren explodiert nun auch das Kopfkino, während auf der Bühne die Geigerin in Leidenschaft ein paar Bogenhaare verliert. Ein denkwürdiger musikalischer Moment, entstanden aus einem ebenfalls denkwürdigen „Hineinkriechen in die Musik“.
Das nächste „2 x Hören“ ist schon gebucht.
Titelfoto © Alte Oper Frankfurt, Wonge Bergmann