Mit der 1883 in Wiesbaden fertiggestellten 3. Sinfonie in f-dur op. 90 feierte Johannes Brahms einen seiner größten Triumphe. Bei der Uraufführung mit Hans Richter am Dirigentenpult hagelte es frenetischen Applaus, außer bei den Anhängern von Bruckner und Wagner. Ihnen missfiel die im typischen Stil der Wiener Klassik gehaltene Komposition, da sie nicht der sogenannten neudeutschen Schule entsprach. Brahms war aber eher ein Verfechter eines aus der Musik selbst entspringenden künstlerischen Anspruchs und konnte sich damit trotz aller Unkenrufe zumindest beim Publikum durchsetzen. Soviel zu den allgemein bekannten Fakten.
Herbert Blomstedt hat mit der vorliegenden Einspielung der letzten beiden Sinfonien seinen 2. Brahms-Zyklus vollendet und damit auch gleichzeitig eine der besten Aufnahmen unter zahlreichen Veröffentlichungen überhaupt abgeliefert. Da wo andere längst ihren wohlverdienten Ruhestand genießen, zeigt sich der Maestro musikalisch gesehen in absoluter Bestform und kommt in kongenialer Zusammenarbeit mit dem Gewandhausorchester erst so richtig in Fahrt. Das poco allegretto der 3. Sinfonie fasziniert mich immer wieder aufs Neue. Blomstedt arbeitet die Schönheit dieses Satzes transparent und mit Kolorit heraus. Die lyrische Unterstreichung dieses relativ kurzen Stücks habe ich von der Intensität her noch nie so gehört. Der warme analog klingende Tiefbass geht spürbar durch den Magen und sorgt für eine ganz besonders dichte Atmosphäre. Schon bei der Einspielung der Schubert Sinfonien ist mir dieses ausgewogene Klangspektrum bei Blomstedt besonders positiv aufgefallen. Er nutzt die Möglichkeiten der Digitaltechnik optimal aus. Hier klingt nichts steril oder gar künstlich verfremdet. Aufbau und Struktur der Sinfonie sind bei Blomstedt bis ins kleinste Detail sauber und akribisch ausgearbeitet. Auch den 4. Satz dirigiert er mit außerordentlichem Gespür für scheinbar Nebensächliches. Das Gewandhausorchester glänzt mit absoluter Spielfreude und voluminösem „Sound“. Besitzer einer konventionellen Stereoanlage mit entsprechend hochwertigem Equipment werden begeistert sein.
Herbert Blomstedt tiefgründig
Bei der 4. Sinfonie geht Blomstedt außerordentlich tiefgründig vor. Der melodische erste Satz kommt, für Brahms eher ungewöhnlich, ohne Einleitung direkt zum Hauptthema. Heute würde man von „Ohrwurmqualitäten“ sprechen, so enorm hoch ist der Wiedererkennungswert. Davon unbeeindruckt, gelingt Blomstedt im zweiten Satz ein fesselnder Spannungsaufbau und verleiht dadurch der gesamten Sinfonie eine enorme Tragweite, abgelöst von einem ausgelassenen und kontraststarken allegro giocoso. Im 4. Satz entlockt der Maestro dem Gewandhausorchester dann ein donnerndes Finale, welches auf den Hörer wie ein Starkregen einprasselt. Brahms gelingt hier der Spagat zwischen Tradition und Moderne. Man gewinnt den Eindruck, dass er alle zeitgenössischen Kritiker überzeugen wollte. Die Weichen für die Zukunft schienen gestellt. Brahms jedoch beendete damit seine sinfonische Schaffensperiode und konzentrierte sich fortan mehr auf seine kammermusikalischen Fähigkeiten.

Im hochbetagten Alter von 95 Jahren hat Herbert Blomstedt vor wenigen Wochen wohlverdient und zum zweiten Mal das Bundesverdienstkreuz, diesmal mit Stern, verliehen bekommen. Eine ganz besondere Würdigung für einen internationalen Botschafter der Kultur, insbesondere der klassischen Musik. Die von ihm in den letzten Jahren auf physischen Tonträgern veröffentlichten Aufnahmen zeugen von einer exorbitanten Ausdruckskraft und ungebremster Energie. Sein neuer Brahms-Zyklus hat definitiv Referenzcharakter. Aktuell auch als 3er CD-Box beim Pentatone-Label erschienen, kann ich diese Gesamtaufnahme nur wärmstens empfehlen. Sie ist ein seltenes Beispiel für Klang und Interpretation in Harmonie und Vollendung.